Frostkuss
ich den langen Tresen in der Mitte der Bibliothek erreichte, an dem die Ausleihe stattfand. Hinter dem Tresen lagen mehrere durch Glaswände abgegrenzte Büros, die eine Hälfte des Raums unter der Kuppel von der anderen trennten. Ich umrundete den Tresen, sackte auf den Stuhl neben dem Ausleih-Computer und ließ meine Tasche von der Schulter rutschen. Ich hatte nicht einmal die Zeit, mein Mythengeschichtsbuch aus der Tasche zu ziehen und mir auch nur Gedanken über meinen Aufsatz zu machen, bevor in der Glaswand hinter mir auch schon eine Tür quietschte und Nickamedes heraustrat.
Nickamedes war der Leiter der Bibliothek der Altertümer. Ein großer, dünner Mann mit schwarzem Haar, stechend blauen Augen und langen, fahlen Fingern. Er war gar nicht so alt, vielleicht um die vierzig, aber er ging mir mächtig auf die Nerven. Nickamedes liebte die Bibliothek und alle Bücher darin. Er liebte sie mit einer Leidenschaft, die fast schon an die Besessenheit eines Serienkillers erinnerte. Und was er überhaupt nicht leiden konnte, waren all die Schüler, die jeden Tag durch sein kleines Königreich stampften – besonders mich. Der Bibliothekar hatte mich auf den ersten Blick gehasst – aus welchem Grund auch immer –, und in den zwei Monaten, die ich nun schon hier arbeitete, hatte sich seine Einstellung kein bisschen verbessert.
»Aha«, schnaubte Nickamedes und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es wurde auch Zeit, dass du endlich kommst, Gwendolyn.«
Ich verdrehte die Augen. Der verkrampfte Bibliothekar war der Einzige, der meinen vollen Namen benutzte. Ich hatte ihn bereits gebeten, es nicht zu tun, aber bis jetzt vollkommen erfolglos. Ich glaube, er tat es einfach nur, um mich zu ärgern.
»Du bist zehn Minuten zu spät dran – mal wieder «, sagte Nickamedes. »Das ist das dritte Mal in zwei Wochen. Wo warst du?«
Ich konnte ihm schlecht erzählen, dass ich mich vom Schulgelände geschlichen hatte, um Grandma Frost zu besuchen, da Schüler die Schule ja eigentlich unter der Woche nicht verlassen durften. Das war schließlich eine der Großen Regeln. Ich wollte Grandma nicht in Schwierigkeiten bringen – oder schlimmer, daran gehindert werden, sie weiterhin zu besuchen. Außerdem hatte ich bereits gelernt, dass es besser war, sich um Nickamedes und die anderen Mächtigen von Mythos herumzuschummeln, anstatt einen offenen Streit anzufangen. Also zuckte ich einfach nur mit den Achseln.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich war einfach sehr beschäftigt.«
Nickamedes kniff bei meiner vagen, neunmalklugen Antwort die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch eine dünne, gerade Linie bildeten. »Nun, dann lass mich dir jetzt von dem neusten Stück erzählen, das ich heute Morgen aus dem Archiv geholt habe. Mehrere Klassen haben den Auftrag bekommen, es in diesem Semester zu studieren, deshalb bin ich mir sicher, dass viele dir dazu Fragen stellen werden.«
Die Bibliothek besaß viele Vitrinen, in denen staubiger Ramsch ausgestellt wurde, der angeblich mal einem Gott, einer Göttin, einem sagenhaften Helden oder sogar einem Monster gehört hatte. Man konnte kaum einen Gang entlanggehen, ohne über einen Ausstellungskasten zu stolpern. Fast jede Woche holte Nickamedes etwas anderes aus dem Archiv und stellte es aus. Ein Teil meiner Aufgabe als Aushilfsbibliothekarin bestand darin, genug über das jeweilige Stück zu wissen, um den anderen Schülern dabei zu helfen, die richtigen Bücher und weitere Informationen zum Thema zu finden.
Ich seufzte. »Was ist es diesmal?«
Nickamedes krümmte den Finger und bedeutete mir damit, ihm zu folgen. Wir gingen an ein paar Tischen vorbei, die mit Schülern besetzt waren, dann erreichten wir einen großen Glaskasten in der Mitte der Bibliothek. Darin stand eine einfache Schale, die aussah, als bestünde sie aus stumpfem, braunem Ton. Langweilig. Einige der Schwerter sahen zumindest cool aus. Aber dieses Ding? Zum Einschlafen langweilig.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Nickamedes mit leiser Stimme und leuchtenden Augen.
Ich zuckte mit den Achseln. »Für mich sieht es aus wie eine Tonschüssel.«
Nickamedes verzog das Gesicht und murmelte etwas Unverständliches. Wahrscheinlich verfluchte er mal wieder meinen Mangel an Begeisterung. »Das ist nicht einfach nur eine Tonschüssel , Gwendolyn. Das ist die Schale der Tränen.«
Er sah mich an, als hätte ich wissen müssen, was das war. Ich zuckte wieder mit den Achseln.
»Die Schale der
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