Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostkuss

Frostkuss

Titel: Frostkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Estep
Vom Netzwerk:
heraus, dass in dieser Nacht ein Kerl in ihr Haus eingebrochen war, der unter anderem wegen Vergewaltigung gesucht wurde. Die Polizei hatte den Mann erwischt, als er gerade mit einem Messer in der Hand ihr Haus verlassen hatte. Die Frau war so dankbar gewesen, dass sie alle ihre Freundinnen vorbeigeschickt hatte, damit die sich auch die Zukunft vorhersagen ließen.
    Grandma Frost setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber und fing an, einige ihrer Tücher abzuwickeln. Die Stoffe sanken in farbenfrohen Wellen auf den Tisch, während die Münzen an ihren Fransen klimperten. »Soll ich dir was zu essen machen, Süße? Ich habe noch eine Stunde Zeit bis zu meinem nächsten Termin.«
    »Nein danke, ich habe mir schon ein Sandwich gemacht. Außerdem muss ich zurück in die Schule«, sagte ich, stand auf, griff nach meiner Tasche und warf sie mir über die Schulter. »Ich muss heute Abend noch meine Schicht in der Bibliothek absitzen, außerdem ist nächste Woche ein Aufsatz über die griechischen Götter fällig.«
    Die Schulgebühren waren, passend zum Rest von Mythos, astronomisch hoch, und wir waren nicht reich genug, um sie uns leisten zu können – außer Grandma verheimlichte mir etwas und bunkerte irgendwo haufenweise Geld. Vielleicht war es ja so, wenn man bedachte, wie mysteriös und unpräzise sie sich insgesamt über die Akademie geäußert hatte. Auf jeden Fall musste ich jede Woche ein paar Stunden in der Bibliothek arbeiten, um wenigstens einen Teil der Kosten für meine herausragende Ausbildung sowie für Kost und Logis zu tragen. Zumindest behauptete das Nickamedes, der Bibliotheksleiter. Ich ging eher davon aus, dass er einfach eine Schwäche für Sklavenarbeit hatte und es genoss, mich herumzukommandieren.
    Grandma Frost starrte mich an, und ihre purpurnen Augen wirkten plötzlich leer und glasig. Etwas schien die Luft um sie herum aufzuwühlen, etwas Altes, Wachsames – etwas, womit ich vertraut war.
    »Also, sei schön vorsichtig«, murmelte Grandma Frost in der abwesenden Art, die typisch für sie war, wenn sie gerade etwas betrachtete, was nur sie sehen konnte.
    Ich wartete ein paar Sekunden, um zu sehen, ob sie mich vor etwas Bestimmtem warnen wollte. Vielleicht vor einem Riss im Gehweg, über den ich stolpern könnte, oder ein paar Bücher, die von einem Regal in der Bibliothek fallen würden, um mich bewusstlos zu schlagen. Aber Grandma sagte nichts mehr, und nach einem Moment wirkte ihr Blick wieder konzentriert. Manchmal waren ihre Visionen nicht vollkommen klar, sondern beschränkten sich eher auf ein grundsätzliches Gefühl, dass etwas Gutes oder Schlechtes passieren würde. Außerdem fiel es ihr insgesamt schwerer, mit Visionen umzugehen, die ihre Familie betrafen. Je näher Grandma jemandem stand, desto weniger objektiv konnte sie diese Person sehen, und desto mehr beeinträchtigten ihre Gefühle die Visionen. Selbst wenn sie etwas gesehen hätte, sie hätte mir höchstens eine sehr grobe Zusammenfassung der Vision gegeben, nur für den Fall, dass ihre Gefühle ihre übersinnliche Wahrnehmung beeinträchtigten oder sie sehen ließen, was sie sehen wollte – und nicht das, was wirklich geschehen würde.
    Außerdem sagte Grandma immer, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffen, selbst die Wahl haben sollte, ohne mich von den nebulösen Dingen lenken zu lassen, die sie sah. Denn manchmal traten ihre Visionen gar nicht ein. Die Leute machten oft das eine, obwohl Grandma in ihrer Vision das andere gesehen hatte.
    Diesmal musste es auch so gewesen sein, denn sie lächelte mir zu, tätschelte meine Hand und ging zum Kühlschrank.
    »Lass mich dir zumindest noch ein wenig Kürbiskuchen zum Mitnehmen einpacken«, sagte sie.
    Ich blieb stehen und beobachtete Grandma Frost dabei, wie sie durch die Küche eilte. Ich war keine Wahrsagerin, nicht wie sie. Ich konnte keine Visionen empfangen, ohne etwas zu berühren, und ich sah niemals in die Zukunft oder etwas in der Art.
    Trotzdem lief mir aus irgendeinem Grund ein kalter Schauder über den Rücken.

Bis ich mit dem Bus zurück nach Cypress Mountain gefahren war, mich, ohne die schweigenden, starrenden Sphingen anzusehen, durch das Gitter gedrückt hatte und zur Bibliothek gelaufen war, war es fast schon sechs, und die Dämmerung verdüsterte das Schulgelände. Der Himmel war purpurgrau, und dunkle Schatten legten sich wie Blut auf die Gebäude. Ich schüttelte den Kopf, um diesen seltsamen Gedanken zu verscheuchen, und ging weiter.
    Die Bibliothek

Weitere Kostenlose Bücher