Frostkuss
nicht einfach eines ihrer Wohnheimzimmer benutzen? Was tat die Walküre? Und warum trug sie diese leere, ausdruckslose Miene zur Schau?
Immer noch mit diesen langsamen, zombieartigen Bewegungen stieg Morgan die Stufen zur Bibliothek hinauf. Ich hob meinen Rock an und lief hinter ihr her. Dachte die Walküre wirklich, sie könne die Bibliothek betreten? Die Türen waren verschlossen. Ich hatte Nickamedes nach meiner Schicht heute Nachmittag dabei beobachtet, wie er sie abgeschlossen hatte …
Morgan zog eine der großen Doppeltüren auf, trat in die Bibliothek und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich wurde langsamer und hielt am Fuß der Treppe an, dann biss ich mir auf die Lippe und starrte zu dem Gebäude vor mir auf. Heute Abend erschienen mir all die Steinstatuen, Türmchen und Balkone besonders unheimlich, als wäre das gesamte Gebäude ein lebendes Wesen, das nur darauf wartete, mich zu verschlingen. Ich blinzelte, und für einen Moment schien es, als würde die gesamte Bibliothek … Wellen schlagen. Als kröche unter dem Stein etwas herum. Etwas Altes. Uraltes. Mächtiges. Böses.
Ich schauderte, schlang die Arme um mich und warf einen Blick über die Schulter. Die Lichter um den Speisesaal in der Ferne schienen warm, hell und einladend. Ich sollte dorthin zurückgehen. Mir einen Plastikbecher mit Bier von irgendwem schnappen, ein bisschen kiffen, mich total betrinken und dann so tun, als hätte der heutige Abend niemals stattgefunden.
Aber das konnte ich nicht, genauso wenig, wie ich mich davon hatte abhalten können, diese verdammte Haarbürste hochzuheben. Letztendlich wollte ich immer die Geheimnisse der anderen wissen, egal wie dunkel und krank sie waren. Vielleicht lag es an meiner Gypsygabe oder vielleicht auch nur an meiner eigenen paranoiden Einbildungskraft, aber ich hatte das Gefühl, dass heute Nacht in der Bibliothek ein Geheimnis lauerte – vielleicht das größte Geheimnis von allen. Wer hatte Jasmine getötet, wer hatte die Schale der Tränen gestohlen? Vielleicht erfuhr ich sogar den Grund, warum ich überhaupt auf die Mythos Academy gehen musste. All das konnte ich in der Bibliothek erfahren. Sie wartete nur darauf, dass ich hineinging und es herausfand.
Komm rein, und dir wird alles klar , schien eine Stimme in meinem Hinterkopf zu flüstern. Aber vielleicht war das ja nur Wunschdenken.
Was auch immer mich dazu trieb, ich hob wieder den Rock an, stieg die Stufen hinauf und schlich mich in die Bibliothek.
Ich hatte mich geirrt, als ich gedacht hatte, es würden nur ein paar Lichter in der Bibliothek brennen. Die große Doppeltür, die zur Haupthalle führte, stand weit offen. Der goldene Schein drang in den Flur und wies mir den Weg. Aber irgendetwas an dem Licht war heute seltsam. Es schien mehr Schatten zu werfen, als es tatsächlich bannte, und verlieh allem, auf das es fiel, eine dunkle, unheimliche Aura. Von den Rüstungen, die den Flur säumten, bis zu den Reliefs der mythologischen Kreaturen an den Wänden.
Wieder einmal beobachteten mich die Greifen und Gorgonen, schienen jeder meiner Bewegungen zu folgen, als ich an ihnen vorbeischlich. Das seltsame Licht erhellte die Monster und ließ sie wilder und lebendiger wirken als je zuvor – als könnten sie jeden Moment aus dem Stein springen und mich in Stücke reißen. Ich schauderte und wandte den Blick von den Wänden ab.
Morgan war bereits außer Sicht verschwunden, aber das Klappern ihrer Absätze auf dem Steinboden hallte durch die gesamte Bibliothek.
Ich hielt kurz an, um die eigenen Stöckelschuhe auszuziehen, dann folgte ich ihr. Der Boden fühlte sich eiskalt unter meinen nackten Füßen an, aber zumindest würde ich jetzt nicht denselben Lärm veranstalten wie die Walküre.
Dem hohlen Geräusch ihrer Schritte nach zu urteilen ging Morgan die Hauptregalreihe entlang. Direkt auf wen auch immer zu, der in der Mitte der Bibliothek wartete. Ich war nicht naiv oder dumm genug, zu glauben, dass niemand sonst hier war. Jemand hatte die Lichter eingeschaltet und für Morgan die Türen geöffnet. Ich bezweifelte schwer, dass es Nickamedes gewesen war. Ich hatte ihn gerade noch im Speisesaal gesehen, vollkommen vertieft in seine Aufgabe als Aufseher über den Ball.
Da ich mir nicht sicher war, ob ich der Person, die drinnen wartete, wirklich begegnen wollte, entschied ich mich für eine der Seitentüren, die ebenfalls in den Bibliotheksbereich führten. Ich öffnete sie und schlüpfte auf diesem Weg hinein. Ich wusste nicht,
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