Frostnacht
verborgen lag – ein Bild, das mich und meine Freunde in einer großen Schlacht gegen die Schnitter zeigte. Jeder von uns hatte eine Waffe oder einen anderen Gegenstand in der Hand gehalten – und das waren die Artefakte, die zu finden und vor den Schnittern zu bewahren Nike mir aufgetragen hatte. Bis jetzt hatte ich allerdings nur Rans Netz identifiziert und aufgespürt.
Doch auch heute lag das Fresko wieder in den Schatten. Von dort also keine Hilfe. Zumindest nicht heute Abend.
»Aber es sieht aus wie das Netz in meiner Zeichnung, richtig?«
Ich konnte nicht zeichnen, selbst wenn mein Leben davon abhinge, aber Oliver war total künstlerisch begabt, also hatte er das Fresko für mich gemalt, anhand meiner eigenen groben Skizze mit Beschreibungen. Seine detaillierte Zeichnung trug ich ebenfalls zur Sicherheit in meiner Tasche mit mir herum.
»Deine Zeichnung ist perfekt, und es ist definitiv das richtige Netz«, sagte ich. »Es ist nicht dein Fehler, dass ich zu dämlich bin, um zu verstehen, was daran so toll sein soll.«
»Mach dir keine Sorgen, Gwen. Du wirst es rausfinden. Das tust du immer. Ich glaube an dich.«
»Schön, dass zumindest einer von uns das tut«, grummelte ich.
Oliver grinste über meinen sarkastischen Kommentar.
Nachdem mein Versuch mit dem Netz ein Fehlschlag gewesen war, räumte ich noch ein paar Bücher ein und staubte ein paar Vitrinen ab. Allerdings erledigte ich die Aufgaben vollkommen mechanisch, wie ich es immer tat, seit Logan verschwunden war. Mehr als einmal ertappte ich mich dabei, wie ich einfach reglos ins Leere starrte und darüber nachdachte, wo der Spartaner wohl war und was er gerade tat. Ob es ihm gut ging. Ob ihm kalt war oder ob er Hunger hatte, ob er Angst hatte oder müde war.
Ob er wohl an mich dachte.
Jeweils nach ungefähr zwei Minuten schüttelte ich meine Trauer ab und wurde wütend auf mich selbst, weil ich ständig an Logan dachte. Vic hatte recht. Ich musste wirklich damit aufhören, Trübsal zu blasen, und stattdessen ein paar Schnitter töten. Oder zumindest meine Hausaufgaben für morgen erledigen.
Leichter gesagt als getan. Denn schon fünf Minuten später las ich nicht etwa in meinem Mythengeschichtsbuch, wie ich es hätte tun sollen, sondern stellte fest, dass ich schon wieder an Logan dachte.
Schließlich ertrug ich es nicht länger, also drehte ich mich auf meinem Stuhl zu Oliver um, der an seinem Handy herumspielte.
»Also …«, sagte ich beiläufig, weil ich mir nicht anmerken lassen wollte, wie wichtig mir die Frage war. »Hast du mal was von Logan gehört?«
Oliver erstarrte. Er sah mich an, dann warf er einen kurzen Blick auf den Bildschirm seines Handys. Schuldgefühle flackerten in seinen grünen Augen.
»Du simst gerade mit ihm, oder?«
Oliver verzog das Gesicht. Er tippte noch etwas in sein Handy, dann schob er das Gerät in die Hosentasche. Meine Frage beantwortete er allerdings nicht.
»Wie geht es ihm? Wo ist er? Geht es ihm gut? Kommt er jemals zurück auf die Akademie?«
Es waren dieselben Fragen, die ich so gut wie jedem in meiner Umgebung schon hundertmal gestellt hatte. Dieselben Fragen, die ich mir selbst jede Nacht in meinem Zimmer stellte, besonders wenn ich aus einem meiner Albträume erwachte.
Oliver seufzte. »Logan braucht ein wenig Zeit, Gwen. Er braucht Abstand, von der Akademie und allem, was passiert ist. Aber ja, um deine Frage zu beantworten, es geht ihm gut. Zumindest behauptet er das, wenn er mir simst.« Oliver zögerte. »Und falls das hilft, er fragt immer nach dir.«
»Was sagst du ihm dann?«, fragte ich leise.
Wieder zögerte er. »Dass du ihn vermisst. Dass wir alle ihn vermissen. Dass wir ihn brauchen und dass er seinen Hintern so schnell wie möglich wieder hierherschaffen soll.«
»Und was antwortet er darauf?«
Oliver zuckte mit den Achseln. »Nichts. Einfach … gar nichts. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt. Ich weiß nicht, ob er überhaupt zurückkommt. Nicht nach dem, was die Schnitter ihm angetan haben. Und besonders nicht nach dem, was er dir angetan hat.«
Ich stieß meinen angehaltenen Atem aus. Ich erlaubte mir gewöhnlich nicht, lange darüber nachzudenken, dass Logan vielleicht nie zurückkommen würde, aber im Moment erfüllte der Gedanke mein gesamtes Sein. Es fühlte sich an, als würde sich eine kalte Faust um mein Herz schließen und mich von innen heraus zerquetschen. Plötzlich konnte ich hinter dem Ausleihtresen kaum mehr atmen. Hier war es zu eng, zu voll und
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