Frostnacht
viel zu belebt, um durchzuatmen.
Oliver bemerkte meine betroffene Miene. »So habe ich es nicht gemeint, Gwen. Es ist nicht deine Schuld, dass Logan weg ist.«
Doch ich war schuld, und das wussten wir beide. Ich schüttelte den Kopf, schnappte mir ein paar Bücher und verschwand zwischen den Regalen, bevor Oliver sehen konnte, wie tief mein Schmerz saß.
Glücklicherweise beschloss Oliver, mir nicht zu folgen. Ich wanderte in einen abgelegenen Teil der Regalreihen, zu der Stelle, an der Vics Vitrine gestanden hatte. Dort blieb ich mit geschlossenen Augen stehen, drückte mir die Bücher an die Brust und bemühte mich, ruhig zu atmen. Ein und aus, ein und aus, wie ich es laut meiner Mom tun sollte, wann immer ich Sorgen hatte, nervös, verängstigt oder durcheinander war.
Sorgen? O ja. Durcheinander? Definitiv. Und wieder spürte ich dieses kurze Aufwallen von Wut auf Logan, weil er nicht hier war. Weil er mich zurückgelassen hatte, um mit all den Schwierigkeiten allein klarzukommen.
Es kostete mich ein paar Minuten, aber schließlich verklang mein Herzschmerz, und der Druck auf meiner Brust ließ nach. Innerlich war mir allerdings immer noch kalt – ich fühlte mich abgestumpft und leer. Meine Wut war verschwunden oder zumindest für den Moment vereist, und ich konnte nicht mal weinen. Meine Tränen schienen genauso eingefroren zu sein wie mein gesamtes Inneres.
Wieder einmal erfüllte ich mechanisch meine Aufgaben und ordnete die Bücher ein, die ich mir geschnappt hatte. Sobald das erledigt war, wanderte ich die Stufen in den ersten Stock hinauf. Hier oben war es ruhiger, sodass das Schlurfen meiner Turnschuhe auf dem Marmorboden das einzige Geräusch war. Oliver würde sich wahrscheinlich irgendwann Sorgen machen und nach mir suchen, aber für den Moment genoss ich die Stille – und die Einsamkeit.
Letztendlich landete ich an einer vertrauten Stelle im Pantheon – vor Nikes Statue.
Die griechische Göttin des Sieges sah als Marmorstatue genauso aus wie in den kurzen Momenten, in denen sie mir persönlich erschien. Ihr lockiges Haar fiel über ihre schmalen Schultern. Ein weißes, togaähnliches Kleid umfing ihren schlanken, muskulösen Körper. Flügel erhoben sich über ihrem Rücken. Auf ihrem Kopf lag ein Lorbeerkranz. Und ihre Gesichtszüge wirkten irgendwie gleichzeitig stark, kalt, schrecklich und wunderschön.
Normalerweise sagte ich ein paar Worte zu der Göttin, wann immer ich die Statue hier oben besuchte, aber heute fühlte ich mich nicht danach. Stattdessen setzte ich mich an den Fuß der Statue, kauerte mich zu einem Ball zusammen und lehnte den Kopf nach hinten an den kühlen, glatten Marmor.
Nach einer Weile fühlte ich mich ruhiger, als könnte ich die Kraft finden, wieder nach unten zu gehen und mich dem Rest des Abends zu stellen. Doch ich blieb, wo ich war, auch wenn ich aufstand. Vom ersten Stock aus konnte ich all die Schüler unter mir von oben betrachten – inklusive des Kerls, der vor dem Ausleihtresen stand.
Ich war mir nicht sicher, was an ihm meine Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht lag es daran, dass er einfach nur dort stand, als wartete er darauf, dass jemand kam und ihm half. Vielleicht lag es an den verstohlenen Blicken, die er Oliver zuwarf, der mal wieder simste, ohne etwas um sich herum zu bemerken. Oder vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass seine Hände leer waren. Er trug kein Buch, keinen Block, keine Stifte, nicht mal einen Tablet- PC , um gelangweilt im Internet zu surfen, statt seine Hausaufgaben zu machen. Auf jeden Fall wirkte irgendwas an dem Kerl einfach … falsch.
Ich trat näher an das Geländer, um ihn besser sehen zu können. Jeans, grüner Pullover, braune Stiefel, braune Lederjacke. Er trug dieselbe Kleidung wie alle anderen auch, bis hin zu den Designerlogos auf den teuren Stoffen. Also musterte ich sein Gesicht. Braune Haare, dunkle Augen, gebräunte Haut.
Moment mal. Ich kannte ihn. Jason Anderson. Ein Wikinger und wie ich auch ein Schüler im zweiten Jahr. Er saß in Englisch nur zwei Tische von mir entfernt. Ich hatte Jason noch nie groß beachtet, außer um ihn kurz zu grüßen oder ihn zu bitten, mir ein Buch oder die Kopie eines Aufgabenblattes zu reichen. Doch jetzt sorgte irgendetwas an ihm dafür, dass ich ihn im Blick behielt.
Jason legte vorsichtig eine Hand auf den Tresen, dann die andere – und dann schoss sein Arm nach vorne und er schnappte sich meine Wasserflasche.
Ich runzelte die Stirn. Was wollte er mit
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