Frühe Erzählungen 1893-1912
dastand, wie früher, so süß und rein …
Über ihm unter rollenden Klavierpassagen klagte ein Cello so seltsam, und wie die tiefen, weichen Töne sich quellend und hebend um seine Seele legten, stiegen wie ein altes, stilles, längstvergessenes Leid ein paar lose, sanft-wehmütige Rhythmen in ihm auf …
… Daß einst, wenn dieser Lenz entschwand,
Ein öder Winter wird,
{48} Daß an des Lebens harter Hand
Eins von dem andern irrt …
Und das ist noch der versöhnlichste Schluß, den ich machen kann, daß der dumme Bengel da weinen konnte.« –
***
Es war einen Augenblick ganz still in unserer Ecke. Auch die beiden Freunde neben mir schienen von der wehmütigen Stimmung, die des Doktors Erzählung in mir erweckt hatte, nicht frei zu sein.
»Aus?« fragte schließlich der kleine Meysenberg.
»Gott sei Dank!« sagte Selten mit einer, wie mir schien, etwas gemachten Härte und stand auf, um sich einer Vase mit frischem Flieder zu nähern, die ganz hinten im letzten Winkel auf einer kleinen geschnitzten Etagère stand.
Jetzt hatte ich es auf einmal heraus, woher der merkwürdig starke Eindruck kam, den seine Geschichte auf mich gemacht hatte: von diesem Flieder, dessen Duft in ihr eine so bedeutsame Rolle spielte, und der über der Erzählung gelegen hatte. Dieser Duft war es zweifellos, welcher für den Doktor den Beweggrund für die Mitteilung des Begebnisses ausgemacht hatte, und der für mich von geradezu suggestiver Wirkung gewesen war.
»Rührend«, sagte Meysenberg und zündete sich mit einem tiefen Seufzer eine neue Cigarette an. »Eine ganz rührende Geschichte. Und doch so riesig
einfach
!«
»Ja«, stimmte ich bei, »und gerade diese Einfachheit spricht für ihre
Wahrheit
.«
Der Doktor lachte kurz auf, während er sein Gesicht noch mehr dem Flieder näherte.
Der junge blonde Idealist hatte noch garnichts gesagt. Er {49} hielt den Schaukelstuhl, in dem er saß, in fortwährender Bewegung und aß noch immer Dessert-Bonbons.
»Laube scheint furchtbar ergriffen zu sein«, bemerkte Meysenberg.
»Gewiß ist die Geschichte rührend!« antwortete der Angeredete eifrig, indem er mit Schaukeln innehielt und sich aufrichtete. »Aber Selten wollte mich doch widerlegen. Davon hab’ ich nichts gemerkt, daß ihm das geglückt ist. Wo bleibt, auch angesichts dieser Geschichte, die moralische Berechtigung, über das
Weib
…«
»Ach, hör’ auf mit Deinen abgestandenen Redensarten!« unterbrach ihn der Doktor brüsk und mit einer unerklärlichen Erregung in der Stimme. »Wenn Du mich noch nicht verstanden hast, kannst Du mir leidthun. Wenn eine Frau heute aus
Liebe
fällt, so fällt sie morgen um
Geld
. Das hab’ ich Dir erzählen wollen. Weiter garnichts. Das enthält vielleicht die moralische Berechtigung, nach der Du so zeterst.«
»Ja sag’ mal«, fragte auf einmal Meysenberg, »wenn sie wahr ist, – woher
weißt
Du denn eigentlich die ganze Geschichte so genau bis in alle Details, und warum regst Du Dich überhaupt so darüber auf?!«
Der Doktor schwieg einen Augenblick. Dann griff plötzlich seine rechte Hand mit einer kurzen, eckigen, fast krampfhaften Bewegung mitten in den Fliederstrauß hinein, dessen Duft er eben noch tief und langsam eingeatmet hatte.
»Na Gott«, sagte er, »weil ich das selber war, der »gute Kerl« – sonst wär’ mir’s doch ganz egal –!« – –
Wirklich, – wie er das so sagte und dazu mit dieser verbitterten, traurigen Brutalität in den Flieder griff, … gerade wie damals, – wirklich, von dem »guten Kerl« war nichts mehr an ihm zu bemerken.
{50} Der Wille zum Glück
Der alte Hofmann hatte sein Geld als Plantagenbesitzer in Südamerika verdient. Er hatte dort eine Eingeborene aus gutem Hause geheiratet und war bald darauf mit ihr nach Norddeutschland, seiner Heimat, gezogen. Sie lebten in meiner Vaterstadt, wo auch seine übrige Familie zu Hause war. Paolo wurde hier geboren.
Die Eltern habe ich übrigens nicht näher gekannt. Jedenfalls war Paolo das Ebenbild seiner Mutter. Als ich ihn zum ersten Male sah, das heißt, als unsere Väter uns zum ersten Male zur Schule brachten, war er ein mageres Bürschchen mit gelblicher Gesichtsfarbe. Ich sehe ihn noch. Er trug sein schwarzes Haar damals in langen Locken, die wirr auf den Kragen seines Matrosenanzuges niederfielen und sein schmales Gesichtchen umrahmten.
Da wir es beide zu Hause sehr gut gehabt hatten, so waren wir mit der neuen Umgebung, der kahlen Schulstube und besonders
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