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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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geradezu! – Aber sie hätte sich doch was merken lassen, wenn es so war! Sie hatte sich ja um die ganze Sache anscheinend garnicht gekümmert. Erst jetzt fiel ihm das auf. Vorhin war seine ganze Aufmerksamkeit durch den unverschämten alten Herrn gefesselt worden. – Wer mochte er nur sein! Ihm wurde wirklich ganz ungemütlich, und er zögerte einen Augenblick, wieder zu ihr einzutreten bei dem Gedanken, er könne sich ungebildet benommen haben.
    Als er darauf die Zimmerthür wieder hinter sich geschlossen hatte, saß Irma seitwärts in der Sofaecke, hatte einen Zipfel ihres Batisttüchleins zwischen den Zähnen und blickte starr geradeaus, ohne eine Wendung ihm entgegen.
    Er stand einen Augenblick ganz ratlos da; dann faltete er vor sich die Hände und rief fast weinend vor Hilflosigkeit:
    »Aber so sag’ mir doch nur, wer das bloß
war
, Herrgott!!«
    Keine Bewegung. Kein Wort.
    Es wurde ihm heiß und kalt. Ein vages Grauen stieg in ihm auf. Aber dann hielt er sich eindringlich vor, daß das Ganze ja einfach lächerlich sei, setzte sich neben sie und nahm väterlich ihre Hand.
    »Geh’, Irmachen, nun sei mal vernünftig. Du kannst mir doch nicht böse sein? Er fing doch
an
 – der alte Herr. – Wer
war’s
nun eigentlich?«
    Totenstille.
    Er stand auf und ging ratlos ein paar Schritte von ihr weg.
    Die Thür neben dem Sofa zu ihrem Schlafzimmer stand halb offen. Auf einmal ging er hinein. Auf dem Nachttisch am Kopfende des offenen Bettes hatte er etwas Auffallendes gesehen. Als {46} er wieder eintrat, hatte er ein paar blaue Zettel in der Hand, Banknoten.
    Er war froh, momentan etwas anderes zu sagen zu haben. Er legte die Scheine vor ihr auf den Tisch mit den Worten:
    »Schließ das lieber weg; es lag drüben.«
    Aber plötzlich ward er wachsbleich, seine Augen vergrößerten sich und seine Lippen thaten sich zitternd auseinander.
    Sie hatte, als er mit den Banknoten eintrat, die Augen zu ihm aufgeschlagen, und er hatte ihre Augen
gesehen
.
    Etwas Abscheuliches langte mit knochigen, grauen Fingern in ihm empor und ergriff ihn inwendig im Halse.
    Und nun war es allerdings traurig zu sehen, wie der arme Junge die Hände von sich streckte und mit dem kläglichen Ton eines Kindes, dessen Spielzeug zerschlagen am Boden liegt, nur immer hervorstieß:
    »Ach nein! … Ach – ach
nein

    Dann in jagender Angst auf sie zu, mit irren Griffen nach ihren Händen, wie um sie zu sich zu retten und sich zu ihr, mit einem verzweifelten Flehen in der Stimme:
    »
Bitte
nicht …! Bitte – bitte
nicht
!! Du weißt ja nicht –
wie
 …
wie
ich …
nein
!! Sag’ doch
nein
!!!«
    Dann wieder, zurück von ihr, stürzte er laut aufjammernd am Fenster in die Kniee, hart mit dem Kopf gegen die Wand.
    Das Mädchen rückte sich mit einer verstockten Bewegung fester in die Sofaecke.
    »Ich bin schließlich beim
Theater
. Ich weiß nicht, was du für
Geschichten
machst. Das thun ja doch
alle
. Ich hab’ die Heilige
satt
. Ich hab’
gesehen
, wohin das führt. Das geht nicht. Das
geht
bei uns nicht. Das müssen wir den
reichen
Leuten überlassen. Wir müssen schauen, was wir mit uns
anfangen
können. Da sind die Toiletten und … und
alles
.« Schließlich herausplatzend: »
Es wußten ja doch alle, daß ich sowieso
 …!«
    {47} Da stürzte er sich auf sie und bedeckte sie mit wahnsinnigen, grausamen, geißelnden Küssen, und es klang, wie wenn in seinem stammelnden »O Du … Du …!!« seine ganze Liebe verzweiflungsvoll gegen furchtbare, widerstrebende Gefühle rang. –
    Vielleicht, daß er es schon aus diesen Küssen lernte, daß für ihn fortan die Liebe im Haß sei und die Wollust in wilder Rache; vielleicht, daß da später noch eins zum anderen kam. Er weiß es selber nicht. – –
    Und dann stand er unten, vor dem Hause, unter dem weichen, lächelnden Himmel, vor dem Fliederstrauch.
    Regungslos stand er lange, starr, die Arme am Leibe herunter. Aber auf einmal merkte er es, wie wieder ihm der süße Liebesatem des Flieders entgegenquoll, so zärtlich, so rein und lieblich.
    Und da schüttelte er mit einer jähen Bewegung aus Jammer und Wut die Faust zu dem lächelnden Himmel hinauf und griff grausam in den lügnerischen Duft hinein, mitten hinein, daß das Gesträuch knickte und brach, und die zarten Blüten zerstoben. – –
    Dann saß er daheim an seinem Tisch, still und schwach.
    Draußen herrschte in lichter Majestät der liebliche Sommertag.
    Und er starrte auf ihr Bild, wie sie noch immer

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