Frühling der Barbaren
er dankbar annahm. Saida, die sich ihres Kopftuches entledigt hatte und auf einem kunstledernen Sofa zwischen alten Zeitschriften und fettigem Einwickelpapier in einen tiefen Schlaf fiel.
«‹Sind sie wütend?›, fragte mich der kleine Mann», sagte Preising. «War ich wütend? Nein, das traf es nicht, ich war empört und dachte an jenen Jungunternehmer, der mir einstmals bei Zürcher Geschnetzeltem und Rösti wortreich erklärt hatte, dass, mit etwas gesundem Abstand betrachtet, die Sache mit der Kinderarbeit nicht so einfach sei. Aus der Nähe schien mir die Sache jedenfalls ganz einfach. Einfach und empörend. Aber das war es nicht, auf was der Fragende hinauswollte, wie ich verstand, als er mir freimütig erklärte, er, an meiner Stelle, wäre ganz schön wütend, schließlich bezahle ich an Malouch den vollen Preis für kompetente, volljährige Arbeiter, während, wie ich hier mit eigenen Augen sehen könne, kleine Schwarzafrikaner meine wertvollen Produkte assemblierten. ‹Monsieur Malouch macht dabei einen ganz guten Schnitt›, sagte er. Seit über einem Jahr würde ich dergestalt über den Tisch gezogen, als nämlich Slim Malouch diesen äußerst gut geführten – dabei deutete er mit seinem gelb verfärbten Daumen auf seinen spitzen Bauch – und zu unschlagbar niedrigen Preisen produzierenden Assemblierungsbetrieb zu unverschämt günstigen Konditionen von den Hinterbliebenen eines Konkurrenten erworben hatte, eines überaus mutigen Mannes, der sich mit nichts als einer Schaufel und einem Eimer Sand einem brennenden Phosphatwerk entgegengestellt und über diesem Ereignis den Kopf verloren habe. Jedenfalls habe er einen interessanten Vorschlag zu machen. Da es mit den Geschäften der Familie Malouch sowieso vorbei sei, dieser Betrieb hier aber in den Büchern vermutlich nirgends auftauche und deswegen der skandalösen Verstaatlichung entgehen werde, würde er sich bereit erklären, den Betrieb auf eigenes Risiko weiterzuführen, und in dieser neuen Funktion als Patron sei er natürlich in der Lage, mir mit dem Preis zukünftig etwas entgegenzukommen. Ich hielt es in meiner Situation für das Klügste, auf diesen in jeder Hinsicht infamen und kriminellen Vorschlag nicht weiter einzugehen, und bestrafte ihn mit einem verächtlichen Schweigen.»
Ein Schweigen, das eigentlich als hilflose Sprachlosigkeit bezeichnet werden sollte. Eines, das Slim Malouchs abtrünniger Angestellter ganz falsch interpretierte, denn dieser hielt nun Preising, trotz seines jämmerlichen Aussehens oder vielleicht gerade deswegen – Preising hatte sich seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr rasiert, was ihm in Kombination mit den angesengten Kleidern und den zu Berge stehenden Haaren etwas Verwegenes gab –, für einen ganz harten Hund, und um ihm zu beweisen, dass er ein ebensolcher war, nestelte er aus seinem grauen Gabardinejackett ein Telefon und verständigte die Sicherheitsbehörden, er habe Malouchs Tochter festgesetzt.
Vier Uniformierte holten Saida ab. An den Haaren schleiften sie sie an den langen Tischen vorbei, an denen die Kinder die Köpfe gesenkt hielten und nicht von ihrer Arbeit abließen. Der kleine Mann streckte sich, um Preising seinen Arm um die Schultern legen zu können, führte ihn nach draußen, wies noch auf die allgemeine Sauberkeit im Betrieb hin. Ein junger Polizist öffnete den Schlag eines Streifenwagens. Preising spürte die Hand seines Begleiters auf seinem Haar, die ihn fürsorglich davor bewahrte, sich am Türholm den Kopf zu stoßen. «Sie melden sich», sagte er noch, «damit wir über den neuen Preis sprechen können». Dann schloss er hinter ihm die Wagentür und winkte dem davonschießenden Wagen hinterher. Preising blickte über die Schulter zurück. Sah, wie Saida stolperte, wie sie sie mit Stiefeln traten und am Kragen ihres René-Lezard-Anzuges über den heißen Asphalt schleiften, die Bluse aufgerissen, den blassen Bauch, den blauen Büstenhalter freilegend. Es war ihm, als habe er dieses Bild schon einmal gesehen, in einem anderen Zusammenhang, unter anderen Vorzeichen, aber er konnte sich nicht erinnern, und diese unerklärliche Überlagerung machte es möglich, dass Preising schon eine Viertelstunde später, als man ihn vor der Schweizer Botschaft aus dem Wagen ließ, sich nicht mehr sicher sein konnte, ob er tatsächlich all dies erlebt hatte.
Preising beendete seine Geschichte mit der Schilderung seines Rückfluges in einem überfüllten Touristenflieger und mit dem Anblick
Weitere Kostenlose Bücher