Fruehstueck mit Proust
schreckte sie auf. Jade sah sie fragend an. Sie antworteten nicht, blickten einander ängstlich an und warteten, bis das Klingeln wieder aufhörte. Mamoune nutzte die Stille, um ihr mit reuevoller Stimme zu beichten, dass sie ja schon versucht habe abzuhauen, bevor Jade angerufen habe, um sie mitzunehmen. Nachdem ihre Tochter ihr mitgeteilt hatte, dass sie gemeinsam mit dem Arzt entschieden hätten, sie in dieses Haus in Annecy zu stecken, umgeben von Bäumen, komfortabel und mit medizinischem Personal, was doch viel besser für sie sei …
»Dass sie mich die ganze Zeit beruhigen wollte, kam mir ein bisschen verdächtig vor, weißt du. Schnell habe ich einen Koffer gepackt. Ich bin hinten durchs Gartentor, das auf den Friedhof geht. Ich hatte keine Ahnung, wohin, ich überquerte das Gräberfeld und wollte zu der verlassenen Straße, die hinterm Dorf vorbeiführt. Als ich mit meinem Rollkoffer über den Steinweg holperte, hatte ich das Gefühl, die Raben würden mich auslachen. In ihrem Krächzen hörte ich die Stimme der Toten: ›Ziehen Sie hierher, Madame? Kommen Sie da nicht etwas zu früh? Und den Koffer brauchen Sie hier nicht, bei uns geben die Besucher ihr Gepäck schon am Eingang ab.‹ Aber die vielen Steine, auf denen sich Geburts- und Sterbedaten aufreihten, haben mich getröstet. Ich sagtemir, dass ich immerhin noch lebte und dass meine Töchter nur zu meinem Wohl handelten.«
»Und? Hast du’s dir anders überlegt?«, fragte Jade.
Als Antwort legte Mamoune ihre Bibel oben in den Koffer und klappte ihn zu.
Obwohl ihre Tante erst am nächsten Tag kommen sollte, wollte Jade so schnell wie möglich losfahren. Sie war müde, aber wenn sie Mamounes Haus verlassen hatten, blieben ihnen unangenehme Begegnungen und Familienstreitigkeiten erspart, die Jade auf jeden Fall vermeiden wollte. Mamoune warf einen letzten schwermütigen Blick in ihr Zimmer, dann folgte sie ihrer Enkelin und bat sie, die Fensterläden und die Tür zu schließen, während sie auf der kleinen Bank wartete, auf der sie sich gewöhnlich ausruhte und ihre Blumen betrachtete.
Die ersten Kilometer fuhren sie schweigend. Mamoune schien vor sich hin zu dämmern. Sie war erschöpft von den Ereignissen. Jade sah immer wieder flüchtig zu ihr hinüber und konnte kaum glauben, dass sie achtzig war. Ihr Alter schien sich in der Liebe, die sie ausstrahlte, aufgelöst zu haben. Mamoune war ewig. Sie hatte Falten, ja, aber sie besaß zu jeder Jahreszeit eine gesunde Gesichtsfarbe und war nicht so fahl und ausgezehrt wie die alten Leute, die Jade in Paris über den Weg liefen. Selbst wenn Mamoune wütend war, was selten vorkam, hatte Jade nie erlebt, dass sie die sanfte, beinah lautlose Stimme verloren hätte, die ihr so eigen war. Sie hatte einen ganz leichten savoyischen Akzent, der stärker wurde, wenn sie über ihr Haus, ihren Garten oder ihre Liebsten sprach.
Wenn Jade sich Mamounes Alter vor Augen führte, ohne dieses Band zwischen ihnen zu sehen, bekam sie esmit der Angst. Angst, mit ihrer Entführung einen Fehler zu begehen, Angst, sich nicht richtig um sie kümmern zu können, Angst, sie belogen zu haben mit dem Versprechen, sie zu retten. Mehrere Male glaubte sie im Rückspiegel das Auto ihrer Tante Denise zu erkennen, die ihre Verfolgung aufgenommen hatte.
Und wenn ihre Tanten auf die Idee kamen, sie wieder von ihr fortzuholen? Was sollte sie dann sagen, wie sollte sie es verhindern? Bis dahin war sie nur die nette Nichte gewesen, mit der man über Literatur oder die Uni sprach, und sie wusste nicht, was ihre Tanten davon halten würden, dass sie sich nun als Verfechterin der Gerechtigkeit aufspielte und ihnen die Mutter entführte …
Obwohl ihr Vater sie unterstützte, machte sich Jade keine Illusionen: Polynesien war weit weg, die Konsequenzen dieser Entführung würde sie allein tragen müssen. Und die Sache mit der Vormundschaft war ihr auch noch völlig unklar. Wie erhielt man eine Vormundschaft für jemanden? Wer untersuchte den Betroffenen, um festzustellen, dass er nicht mehr in der Lage war, seine Angelegenheiten allein zu regeln? Konnten Mamounes Töchter sie auf diesem Weg zurückholen? Dieser ungewollte Krieg, der sie zwang, in ihren Tanten Feindinnen zu sehen, machte ihr schon jetzt zu schaffen.
Sie hatten ungefähr hundert Kilometer zurückgelegt auf dem Weg, den sie heute schon einmal gefahren war, als sie merkte, wie zerschlagen sie war. Sie beschloss, die Autobahn zu verlassen und ein kleines Hotel für die Nacht
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