Fruehstueck mit Proust
hatte mich immer mit seinen Augen gesehen, den Augen unserer Jugend, denn auch ich sah ihn nicht mit dem Lauf der Zeit voranschreiten.
Niemand interessiert sich für das Alter. Je mehr Alte es gibt, desto jünger werden sie. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich alte Leute auch so nennen konnte, ohne das Gefühl zu haben, dass ich einen groben Schnitzer beging. Heute sagt man nicht mehr alt, man sagt jung geblieben. Und die Achtzigjährigen heißen Fünfzig plus, neueste Koketterie einer neuen Spezies, die solche verbalen Verrenkungen noch auf infame Weise unterstützt. Mit seinem Alter gut zurechtkommen bedeutet, sich eine zweite Jugend zu erfinden. Was für ein entwaffnendesParadox! Verjüngen oder verschwinden, das ist die Wahl. Ich nehme es ihnen nicht übel. So sieht es aus: Als ich jung war, waren die Alten noch alt, und jetzt, wo ich alt bin, sind die Alten es sich schuldig, jung zu sein. Wir müssen uns damit abfinden. Wir leben in einer Welt, in der unser Alter danach bewertet wird, ob man es uns ansieht. Und immer mehr von uns verstecken sich in Altersstufen, die nicht zu ihnen passen. Das scheint so eine Art Krieg unter den Lebenden zu sein. Und all jene, bei denen auch Schummeln nichts mehr hilft, verstecken wir, so gut es geht.
Ich weiß, diese verrückte Entscheidung, unsere Flucht, führt mich in eine Abhängigkeit, doch ich möchte der Kleinen auf gar keinen Fall zur Last werden. Heute Morgen im Hotel hat Jade mir meine Bedenken wohl angesehen und mir eilig ins Ohr geflüstert, ich solle sie erst einmal bezahlen lassen, wir würden das Finanzielle dann nach unserer Ankunft in Paris regeln. Ich sehe glasklar vor mir, wie absurd meine Situation ist. Ich habe mich davongestohlen wie eine Diebin. Nicht einmal meine Post wird mir nachgeschickt. Wenn man auf der Flucht ist, denkt man nur daran, seine Haut zu retten. Wovor wollte ich eigentlich fliehen? Vor dem Eingesperrtsein oder vor dem Alter? Alles schön und gut, aber was stelle ich nun an in dieser Stadt und in Jades Leben?
I ch könnte dir vielleicht helfen …
Eine kurze Bemerkung, kaum hörbar dahingesagt von ihrer Großmutter und doch Ursache einer großen Entdeckung, die Jade an diesem Sonntag machte. Ihre Mamoune kannte sie von jeher, und seit einer Woche lebten sie nun zusammen. Doch erst an diesem Tag lernte Jade Jeanne kennen.
Anfangs verstand sie das Angebot ihrer Großmutter nicht, der es sehr unangenehm war, dass sie ihr Telefongespräch mit einem Freund mitangehört hatte. Darin ging es um den Roman, den Jade geschrieben hatte und veröffentlichen wollte. Da sie keine Beziehungen zu Verlagen hatte, verschickte sie das Manuskript auf gut Glück und hoffte, wenn er gut genug sei, würde ihn schon jemand nehmen. Sie erhielt nur Absagen, und selbst den Verlegern, die sich positiv über den Roman äußerten, fehlte offenbar der entscheidende Enthusiasmus, der ihr Manuskript in ein richtiges Buch aus Seiten und mit einem Umschlag hätte verwandeln können. Es hieß, sie verfüge über erzählerisches Talent, einzelne Passagen seien ihr gut gelungen und manchen Probelesern hätten ihre Beschreibungen durchaus gefallen … Kurz und gut, meist erhielt sie eine lapidare Mitteilung, dass ihr Roman nicht in das jeweilige Verlagsprofil passe, ansonsten wäre alles schön und gut. Da die Ansprechpartner sich hinter der anonymen Bezeichnung »Lektorat« versteckten, stellte Jade sich schließlich eine Ansammlung alter Knacker mit Brille vor, die hinter Stapeln von Manuskriptenhockten und viel mehr daran interessiert waren, diese wieder loszuwerden, als eines davon auszuwählen und zu publizieren. Jade hatte resigniert, sie hatte den Traum der Veröffentlichung auf später verschoben und sich wieder ihrem eigentlichen Broterwerb zugewandt.
Jade war eine gewissenhafte und engagierte freie Journalistin, sie verfügte über Erfahrung und über einen Kreis von Auftraggebern, die sie mehr oder weniger regelmäßig beschäftigten und ihr immer mehr Recherchearbeit für immer weniger Geld aufhalsten.
Und nun wollte Mamoune ihr helfen! Wie denn? Sie hatte Angst nachzufragen, Angst, sie zu kränken, wenn sie ihr zu verstehen gab, dass sie in ihren Augen keine Ahnung von Literatur hatte. Aber sie hätte schon gern erfahren, wie Mamoune ihrem Roman das fehlende gewisse Etwas verleihen wollte. Vielleicht mit gesundem Menschenverstand und Instinkt? Vermutlich hatte Mamoune in den vergangenen sechzig Jahren nur die Lokalzeitung gelesen. Ach ja, aus
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