Fruehstueck mit Proust
an mir vorüber.
Wir sind jetzt fast im Herzen von Paris angekommen.Jade muss sich im stockenden Verkehr ganz auf das Fahren konzentrieren, und ich hänge meinen Alte-Frauen-Grübeleien nach. Sie hat gesagt, sie wohnt in einer Straße hinter der Place Pigalle und dass ihr Viertel wie ein Dorf und zugleich ein kleines Stück einer Großstadt sei. Ich frage mich, wie das gehen soll.
Ich hatte genügend Zeit nachzudenken, während ich die Bäume zählte, und bis an die Tore der Hauptstadt erschien mir die Fahrt, die uns zu Jade führte, wie eine Flucht. Dann ließen wir die Stadtautobahn hinter uns und tauchten in eine andere Welt ein. Ich suche nach prächtigen Denkmälern und versuche sie zu identifizieren. Ich habe die Stadt, die ich in den fünfziger Jahren zuletzt gesehen habe, kaum wiedererkannt. Die Gebäude stehen noch, aber sie scheinen versunken in einem endlosen Strom von Verkehr, Lärm und ekelerregendem Gestank. Die Passanten sehen aus, als liefen sie neben ihrem eigenen Körper her. Ich beobachte heimlich das hübsche ovale Gesicht meiner dreißigjährigen Enkelin. Ich erinnere mich, dass sie sich auf einer ihrer ersten Reisen das lange blonde Haar abschneiden ließ. Eine junge Reporterin muss ihre Eitelkeit den praktischen Erfordernissen opfern, sagte sie. Jetzt reicht es ihr gerade noch bis zu den Schultern, wenn sie den Kopf nach hinten wirft, um sich im Feierabendverkehr zu orientieren. Unsere Blicke treffen sich. Ihre großen, haselnussbraunen Augen lächeln mich an. Befreit von ich weiß nicht welcher Last, schlängelt sie sich geschickt zwischen den Autos hindurch. Sie strahlt eine herrliche Unbekümmertheit aus. Ich merke, wie glücklich sie ist, es bis hierher, in ihre Stadt geschafft zu haben, als wäre meine Entführung damit unangreifbar, als könnte manuns nun nicht mehr einholen. Doch man darf die Wut meiner Ältesten nicht unterschätzen, die bestimmt versuchen wird, mich aus Paris zurückzuholen.
Ohne meine Gedanken zu erahnen, begleitet meine Enkelin ihre geschickten Lenkmanöver mit Kommentaren über die Sitten und Gewohnheiten der Pariser. Ich glaube der Beschreibung eines Völkchens ungezähmter Barbaren zu lauschen. Es gibt keine Gemeinsamkeit mehr zwischen dem, was meine Augen sehen, und dem, was sie mir erzählt. An diesem Spätnachmittag sind die Straßen belebt, es herrscht dichter Verkehr. Ich bin müde, voller Zweifel. Vielleicht bin ich schon zu alt für solche Abenteuer. Ich glaube, ich lebe in einer Welt, die nicht mehr die meine ist. Ich fürchte mich davor, die wenigen persönlichen Sachen auszupacken, die wir in der Eile mitgenommen haben. Warum macht man in meinem Alter aus allem ein Drama? Unsereins hat doch schon Schlimmeres erlebt …
Es ist das erste Mal, dass ich fliehe. Nicht einmal in Kriegszeiten musste ich mich verstecken oder mein Dorf verlassen. Ich überbrachte die Botschaften zwischen den auf den Almen versteckten Partisanen und den Führern der Résistance von Annecy. Fast ein Spaziergang. Ich bin alt, daran besteht kein Zweifel. Ich kehre zurück zu meinen Erinnerungen. Jade hat das Auto auf einem kleinen Platz mit Bäumen geparkt, der, sagte sie, den Fußgängern vorbehalten ist. Sie windet sich aus ihrem Sitz, richtet ihre Einmeterfünfundsiebzig auf und streckt sich mit gerunzelter Stirn. Ich glaube, sie wägt das Risiko eines Strafzettels ab. Die Glocken läuten, als wollten sie unser Kommen begrüßen. Sie lächelt. Der Mann, der die hergestellt hat, kommt aus deiner Gegend. Was wir hören,sind die Glocken von Montmartre. Du wirst dich hier wie zu Hause fühlen, wirst schon sehen. An meinem Briefkasten klebt sogar schon dein Name. J. Coudray, weil unsere Vornamen mit dem gleichen Buchstaben beginnen. Voller Stolz stelle ich fest, dass die kleine Tochter meines Sohnes Serge eine schöne und schlanke junge Frau geworden ist. Die Freude über die Ankunft hat jede Müdigkeit aus ihrem Gesicht vertrieben. Sie genießt das Privileg der Jugend. Ganz im Gegensatz zu mir …
Jetzt, wo ich mit ihr zusammenlebe, werde ich jeden Tag mit diesem Graben konfrontiert sein. Man gewöhnt sich daran, allein zu leben. Als Jean starb, dachte ich, die Welt würde einstürzen. Ich hatte Angst, fortan sichtbar zu sein, weil er meine Fehler, meine Schwächen nicht mehr verstecken, mich nicht mehr beschützen konnte. Doch nichts von alldem geschah. Ich stellte lediglich fest, dass ich älter geworden war. Mein Leben mit Jean hatte mir diese Tatsache verschleiert. Ich
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