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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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schon vor, dass Carlos Vater mitten in der Nacht nackt auf den Kirchturm kletterte und die Glocken läutete oder dass er zehn Gläser Schnaps ex trank, durch die Nase. Und irgendwann einmal wettete er dann, dass er die Frau des Bürgermeisters verführen und ihr Höschen noch in derselben Nacht an die Rathaustür nageln würde.
    Als er wieder nüchtern war, wusste er, dass er es diesmal zu weit hatte kommen lassen. Gegenüber seiner Frau sah er kein Problem, schließlich war das Weib des Bürgermeisters eine Gadsche, und als Ehebruch galt bei den Jenischen nur Liebe mit einer anderen Zigeunerin. Wenn allerdings der Bürgermeister Wind von der Sache bekäme, und dafür würde wohl spätestens das Höschen seiner Frau am Rathausplatz sorgen, dann käme das einem Todesurteil gleich. Jeder wusste um den Jähzorn des Bürgermeisters und von seinem Hass gegenüber den damals praktisch vogelfreien Jenischen und den anderen Fahrenden. Da eine Wette aber nun einmal eine Wette ist und Carlos Vater weder seinen legendären Ruf noch seine Ehre verlieren wollte, beschloss er, die Sache durchzuziehen. Eine Woche später hing um fünf Uhr früh eine ziemlich große, seidene, mit Spitzen versehene Damenunterhose an der Tür des Rathauses.
    Zwei Stunden später standen sie schon in der Hütte von Carlos Vater, die Männer des Bürgermeisters. Sie klopften nicht an, sie stellten keine Fragen und sie verloren auch sonst kein Wort. Sie durchschnitten die Kehle von Carlos Mutter, die Kehle seines Großvaters, jene des sechsjährigen Bruders und auch die des Neugeborenen. Carlos Vater ließen sie am Leben. Sie schnitten ihm lediglich die Hoden ab und nagelten sie an die Eingangstür. Beim Hinausgehen stellten sie den Wetteinsatz auf den Küchentisch: eine Flasche Schnaps.
    Als Carlo und seine Großmutter einen Tag später von einem ausgedehnten Streifzug zurückkamen, trafen sie in der Nähe ihrer Hütte merkwürdigerweise keine Menschenseele. Carlo sah in die ängstlichen Augen seiner Großmutter. Als die Hütte in Sichtweite war, beschleunigte er seinen Schritt und deutete seiner Großmutter zu warten. Je näher er der Hütte kam, desto lauter hörte er seinen eigenen Atem. Als er durch die offene Tür trat, fand er seine Familie im eigenen Blut. Sein Vater hing mit einem Strick um den Hals vom Querpfosten der Stube. Auf dem Tisch stand eine volle Flasche Schnaps.
     
    Weißt du, warum ich dir diese Geschichte erzählt habe, mein kleiner, schlauer Fuchs? Weil ich dir am Beispiel deines unglückseligen Ahnen die Gratwanderung zwischen Ehre und Dummheit zeigen wollte. Denke immer daran, denn auch du bist noch ein eitler Hitzkopf.
    Außerdem hat unser Ahne eine weise jenische Redensart nicht beherzigt. Du kennst sie schon. Sie lautet: »Jeder erhalte das Dreifache von dem, was er mir wünscht und tut.« Denkt und handelt ein Mensch gegenüber anderen gut, mein kleiner, schlauer Fuchs, dann strömt ihm von allen Seiten Segen zu. Tut er das Gegenteil, wird er unter negativer Strahlung zu leiden haben. Sogar, wenn dir jemand trotz deiner Freundlichkeit keinen sichtbaren Dank zeigt, seine Seele sendet dir Kraft, ganz unabhängig davon, ob dein oder sein Verstand etwas davon bemerkt. Darauf ist Verlass, mein kleiner, schlauer Fuchs. Es ist von jeher so gewesen. Und es wird immer so sein.

4.
    Das allerletzte Mal in ihrem Leben hatte Frida Angst, weil ihre Mutter sie nicht wie üblich in den Schlaf sang. Das konnte ihre Mutter nicht mehr, denn sie lag im Sterben. Lillis Körper war verfallen, aufgedunsen, von Beulen und Furunkeln übersät, und das Geringste war, dass ihre Beine sie nicht mehr zu ihrer jüngsten Tochter tragen wollten. Da die Kleine nicht zu weinen aufhören konnte, ging ihr Vater zu ihr nach nebenan. Er entzündete ein Büschel Bärenfell und ließ es über Fridas Kopf kreisen. Drei rhythmische Kreise formte er nach rechts, drei rhythmische Kreise nach links, hin und her, ganz sanft. Hin und her. Er bewegte das Büschel knapp über dem Kopf der Kleinen. So konnte der weiche Rauch des glimmenden Bärenfells beim Einatmen in ihre Nase gleiten.
    Schließlich war es so weit: Die Angst schwebte aus der kleinen Frida. Sie konnte es förmlich spüren, ja, den Auszug der Angst beobachten. Von diesem Moment an kam die Angst nie wieder zurück zu Frida, ihr ganzes Leben lang nicht.
    In diesen Minuten aber machte ihre Mutter Lilli auch die letzten Atemzüge. Und so gab es viele in der Sippe, die sich einig waren, dass in dem plötzlich

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