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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Reise die neuesten Nachrichten, willkommene Abwechslung und Unterhaltung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verloren die Fahrenden dann sukzessive an Bedeutung: Aufgrund der verkehrstechnischen Erschließung auch entlegener Flecken und der Verbesserung der Nahversorgung waren Wanderhändler immer weniger gefragt. Zudem wandelte sich die Wiederverwertungsgesellschaft zur Wegwerfgesellschaft. Das machte Scherenschleifer, Pfannen-, Kessel- und Schirmflicker überflüssig. Handarbeit, etwa das Korbflechten und das Besenbinden, konnte mit der neuen Massenfertigung nicht mithalten. Übrig blieben bei dieser Entwicklung die Fahrenden. Sie wurden bald nur noch als lästig empfunden.
     
    * * *
     
    Luca Resulatti ist einer der ersten deiner italienischen Ahnen, dessen Leben uns überliefert ist, mein kleiner Fuchs. Er war vierzehn Jahre alt, als er eines Tages neben seinem toten Großvater erwachte. Luca war nicht erschrocken, als er bemerkte, dass sein Großvater nicht mehr atmete.
    Er war auch nicht verzweifelt. Ihm war nur schrecklich kalt. Weißt du, warum Luca so ruhig war? Er war ruhig, weil er wusste, dass der Tod nichts Schlimmes ist, sondern nur die Rückkehr zu sich selbst. Und er war ruhig, weil er stolz war, längst erwachsen zu sein, nämlich seit einem ganzen Jahr schon, und weil er wusste, dass er sehr gut selbst für sich sorgen konnte.
    Sein Großvater hatte ihn auf das Alleinsein vorbereitet. Seit Lucas Eltern und Geschwister an Typhus gestorben waren, hatte er das getan. Nach dem Tod des Großvaters verlor Luca keine Zeit. Er packte seine Siebensachen und dann tat er das, was ihm sein Großvater als letzte Aufgabe mitgegeben hatte: Er brannte die Hütte ab, mitsamt dem Leichnam seines Großvaters darin. Die Gadsche sollten nichts von ihm finden, kein Härchen und keinen Fetzen Gewand. Lucas Großvater wollte nicht, dass sie sich hermachen über seinen leblosen Körper, er wollte nicht, dass sie sich mit ihm beschäftigen und so seine Seele stören, wenn sie gerade auf der großen Reise ist. Aus diesem Grund riet der Großvater seinem Enkel auch, sich niemals fotografieren zu lassen. »Ein Foto ist wie ein Teil von dir«, warnte er Luca. »Ebenso könntest du deine abgeschnittenen Fingernägel oder Haarbüschel von dir unachtsam liegen lassen. Und du weißt doch: Nichts ist einfacher, als dich mit Hilfe solcher Mittel zu verhexen. Lass dir nur ja nicht die Seele rauben!«
     
    Als sich Luca vom brennenden Holzverschlag abwandte, wusste er nicht, welchen Weg er nehmen sollte. Aber er kannte sein Ziel. Längst hatte er beschlossen, Zirkusdirektor zu werden. Es dauerte nur zehn Jahre, zehn Jahre voll Unnachgiebigkeit, voll guter und schlechter Erfahrungen, zehn Jahre des Lernens und des Verantwortung-Übernehmens, nur zehn Jahre, und er war an seinem großen Ziel angekommen: Er wurde Herr über einen der größten Zirkusse Italiens. Sein Onkel hatte ihm alles beigebracht: alles über die Seele der Tiere und alles über die Seele der Menschen. »Mehr brauchst du nicht zu wissen«, sagte er zu ihm. »Mehr kann man gar nicht wissen.« Als er im Sterben lag, übergab er den Zirkus nicht an seine beiden Töchter, die er sehr liebte, sondern an Luca.
    Die Wirklichkeit, mein kleiner, schlauer Fuchs, die Wirklichkeit beginnt in deinem Kopf. Du schaffst sie jeden Tag aufs Neue. Wenn du ein Ziel mit jeder Faser deines Herzens anstrebst, hat das Schicksal gar keine andere Wahl, als es dich erreichen zu lassen. Denn du hast mehr Energie in dir als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst.
     
    Luca Resulattis Onkel Carlo war vermutlich an Lungenkrebs gestorben. Weil es aus seinem Mund pausenlos qualmte, musste er sich von seiner besorgten Frau immer wieder beschimpfen lassen. Seine Reaktion darauf war stets dieselbe: »Mein Bruder hat nicht geraucht. Er hat nicht gesoffen. Er hatte nicht einmal Weibergeschichten. Und trotzdem ist er so früh gestorben, im Alter von sechs Jahren.« Carlo Resulatti brauchte seinen Humor, um mit dem Vergangenen zurechtzukommen.
    Ihren Anfang hatte die Tragödie mit der Wettleidenschaft von Carlos Vater genommen. Von ihm hieß es, er habe noch nie in seinem Leben eine Wette, die er angenommen hatte, verloren. Dennoch war er im Ort ein begehrter Wettpartner. Denn wenn man auch damit rechnen musste, seinen Wetteinsatz an ihn zu verlieren, so schien die spektakuläre Gegenleistung, die Carlos Vater zum Gewinnen der Wette erbringen musste, den Geldeinsatz in jedem Fall wert. So kam es

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