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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Fremden, nicht in eine Kita, aber wenigstens ein paar Stunden am Morgen in einen Kindergarten, auch wenn meine Großmutter täglich sowohl meinen als auch ihren Tod ankündigte. Aber wir überlebten beide, sodass ich nachmittags weiter oben bei ihr sitzen durfte, bis meine Mutter kam, die dann aber doch fast immer zum Essen blieb und danach so lange mit meinem Großvater über den Laden sprach, stritt, »man kann ja überhaupt nicht mehr normal reden mir dir!«, »vielleicht würd’s helfen, wenn du zur Abwechslung mal zuhören würdest!«, »herrje, dann order halt diesen stone washed Scheiß, aber wenn keiner Jeans kaufen will, die schon kaputt sind, mach nicht mich dafür verantwortlich!«, dass ich meist schon eingeschlafen war, wenn sie mich irgendwann von der Eckbank pellte.
    Ich kann mich nicht genau daran erinnern, wann sie der Medizin ganz den Rücken kehrte. Als Kind dachte ich, sie habe wegen der Krankheit meines Großvaters aufgehört, um ihn im Laden zu unterstützen. Aber als meine Großmutter während des Leichenschmauses den Todesmarsch jedes einzelnen Familienmitglieds, das sie schon hatte beerdigen müssen, nacherzählte, augenscheinlich die ehrfürchtigen Blicke genießend, mit denen die anderen Frauen sie bedachten, als hätten die ganzen Toten sie selbst unsterblich gemacht, wurde mir klar, dass sein Alzheimer viel später ausgebrochen sein muss.
    Natürlich ist es meinem Großvater durchaus zuzutrauen, dass er meine Mutter auch ohne neurogenerative Erkrankung so unter Druck gesetzt hatte, dass sie irgendwann der Doppelbelastung einfach nicht mehr gewachsen war. Aber ich glaube, in Wahrheit war ihr Wille zur Größe einfach aufgebraucht. Die Arbeit im Krankenhaus nervte sie nur noch. Die albernen Machtkämpfe unter den Kollegen. Die Patienten, die ihr ihre Leidensgeschichten ins Gesicht husteten. Die ganze Erbärmlichkeit, die sie überall umgab. Obwohl sie die Schwäche am eigenen Leib erlebt hatte, war sie ihr noch immer zutiefst verhasst. Weil sie die Schwäche am eigenen Leib erlebt hatte, war sie ihr verhasster denn je. Also kündigte sie schließlich und widmete sich stattdessen Vollzeit Mode-Schneider, war wieder die rechte Hand meines Großvaters, später, als er immer öfter alles um sich herum und endlich sich selbst vergaß, auch seine linke. Sie arbeitete im Laden, im Büro, im Lager. Sie fuhr zu den Filialen und zeigte den Angestellten, wie es richtig ging. Sie begann auch aus Übersee zu importieren und flog nach China und Indien, um die Ware auszuwählen. Sie war ständig unterwegs, und wenn sie es nicht war, saß sie bis tief in die Nacht am Schreibtisch und erledigte den Papierkram. Aber irgendwie schaffte sie es trotzdem immer genau dann direkt hinter mir aufzutauchen, wenn ich einen Moment untätig herumsaß. War zur Stelle, um mir irgendeine Aufgabe zu erteilen, von der sie sich versprach, dass sie mich schlauer, schneller oder sonstwie besser machen würde. Ihr Wille zur eigenen Größe mochte aufgebraucht sein  – der, mich großzumachen, war noch immer da, und je weniger ich selbst Feuer fing, umso heller loderte er.
    Am schlimmsten war es, wenn ich irgendetwas Geistloses tun, mich ein bisschen vorm Fernsehen berieseln lassen oder einfach nur Musik hören wollte.
    »Wir können doch was spielen!«, rief sie dann.
    Aber das war natürlich ein Trick, denn Spielsachen gab es bei uns nicht.
    »Warum denn nicht?«, jammerte meine Großmutter, »was hab ich denn noch im Leben, wenn ich nicht mal meiner Enkelin eine Puppe kaufen darf?«
    Aber meine Mutter sagte: »Das Fehlen äußerer Reize regt die Phantasie an.« Und freute sich, wenn sie mich tatsächlich in meinem Zimmer fand, wie ich gerade auf einen über die Faust gestülpten Socken einredete, so sehr, dass sie sofort nach oben lief, um es meiner Großmutter unter die Nase zu reiben.
    Manchmal kam sie abends an mein Bett und wollte, dass ich ihr eine Geschichte erzähle, ich ihr, nicht sie mir, und Gnade mir Gott, wenn sie merkte, dass ich mich bei einer meiner Hörspielkassetten bediente.
    »Für was hast du denn deinen Kopf? Ein bisschen Phantasie! Denk dir gefälligst selbst was aus!«, rief sie und schlug mit der flachen Hand gegen meine Stirn, was überraschenderweise tatsächlich meistens klappte, als müsse man die Ideen nur aus mir herausklopfen, wie Kristalle aus einem Steinbruch. Und zur Not konnte ich immer noch auf meine Träume zurückgreifen. Nicht auf die der Nacht, die waren ihr zu diffus. Auf die, die

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