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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Posten der Mutter ohne ihr Verschulden neu besetzt worden war, dass nicht mehr sie gemeint war, wenn jemand »Mama« rief, dass meine Mutter einfach so in ihr Terrain eingedrungen und sie zur Oma degradiert hatte, kaum aus. Neidisch, ängstlich, vor allem aber: zu Tode gekränkt ob der bodenlosen Ungerechtigkeit, ließ sie keine Gelegenheit aus, deutlich zu machen, dass sie selbst besser für den Job geeignet gewesen wäre. Wenn ich schrie, war sie die Erste, die an meinem Bettchen stand. Sie schob mir einen in Honig getunkten Schnuller in den Mund, um mich zu beruhigen. Und meine Mutter zog ihn wieder raus. Sie packte mich in tausend Lagen, um mich vor der Kälte zu schützen. Und meine Mutter wickelte mich wieder aus. Sie prahlte, auf ihrem Arm sei ich am stillsten, »kuck, wie friedlich sie schläft!« Meine Mutter erwiderte, friedlich könne ich im Grab noch lange genug sein, bei ihr habe ich neulich sogar schon »Mama« gesagt. Sie liebten mich um die Wette. Es war ein Rennen, das meine Großmutter ausgerufen hatte. Aber meine Mutter wäre nicht meine Mutter gewesen, hätte sie sich kampflos geschlagen gegeben.
    Allerdings war sie im Nachteil: Während meine Großmutter pausenlos Zugriff auf mich hatte, verbrachte meine Mutter die meiste Zeit des Tages außer Haus. Nach der Entbindung, noch so unter Schock, dass ihr die Kraft zur Gegenwehr fehlte, hatte sie zugestimmt, ein, zwei Wochen mit dem Baby zu meinen Großeltern zu kommen. Aber das mit dem vorübergehend klappte auch diesmal nicht.
    Eines Tages stand der Nachbar vor der Tür und erklärte, jetzt wo der Pimpf nicht mehr da sei, habe seine Frau nun doch die Scheidung eingereicht, er allein könne sich die von meinem Großvater geforderte Miete nicht leisten, weshalb er wohl ausziehen müsse, es sei denn  …
    »Das trifft sich ja wunderbar!«, rief mein Großvater und kam gleich mit nach unten, um zu sehen, ob auch die neue Wiege durch die Tür passte.
    »Wie umziehen? Muss ich’s euch buchstabieren oder was? ICH TREFFE MEINE EIGENEN ENTSCHEIDUNGEN !«, schnaubte meine Mutter, als mein Großvater endlich auch ihr von seinen Plänen erzählte.
    »Es ist doch nur zu deinem Besten, Kind«, versuchte meine Großmutter wieder zu schlichten, »wer soll denn sonst auf Anna aufpassen, während du arbeitest?«
    »Für so was gibt’s doch Kitas, das einzig Gute, was die Ossis mitgebracht haben« (hier noch ohne haha).
    »Zu Fremden willst du sie geben! Du hast doch keine Ahnung, was die da mit ihr machen!«, rief meine Großmutter, woraufhin meine Mutter erneut ein paar Türen schlug. Aber so zornig sie auch war, so genau wusste sie doch auch, dass sie tatsächlich Hilfe nötig hatte, dass sie schnellstmöglich wieder einen geregelten Tagesablauf brauchte. Dass sie wieder arbeiten musste, sich ablenken, wenn sie nicht noch mal an den Punkt kommen wollte, an dem sie plötzlich im Jugendamt saß und sich die Adoptionspapiere geben ließ.
    Das mit dem Pärchen auf Rügen war vielleicht ein wenig übertrieben, aber tatsächlich hatte sie ein paar Tage ernsthaft darüber nachgedacht, mich wegzugeben, »einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen«, wie sie sagte, wobei nicht ganz klar war, ob sie mit der Sache nur mich oder doch viel mehr meinte.
    Was sie letztlich davon abgehalten hat, kann ich nicht sagen. Vielleicht hoffte sie ja doch noch auf einen Funken Alex in mir. Vielleicht hatte sie Angst davor, was mit einem Kind, das ja auch zur Hälfe ihr Erbgut hatte, bei ganz »normalen« Menschen passieren würde. Vielleicht begann sie auch tatsächlich bereits, mich irgendwie zu mögen.
    Auf jeden Fall zerriss sie die Papiere eines Tages wieder, spülte sie die Toilette runter und willigte ein, es mit der Wohnung im ersten Stock zumindest »mal zu versuchen«  – womit ihr Schicksal natürlich besiegelt war.
    Mein Großvater ließ frisch streichen, um die Fettfingerabdrücke des toten Jungen von den Wänden zu kriegen.
    »Unglaublich, was die dem haben durchgehen lassen«, sagte meine Großmutter, während die Möbelpacker den Mahagonischrank wieder die Treppe hoch bugsierten. Und meine Mutter still und leise zurück in die Bürgerlichkeit zog.
    Nachdem sie, noch hochschwanger, ihr Examen nachgeholt und mit Bravour bestanden hatte, fing sie nun endlich in der Charité an, wo sie sich natürlich mal wieder grandios machte. Sie arbeitete viel. Und wenn sie Nachtdienst hatte und tagsüber zu Hause war, ging sie in den Laden und arbeitete noch mehr. Ich kam doch zu

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