Fuenf Maenner Fuer Mich
Er sitzt hinterm Klavier, rollt mit den Augen und streckt seine Zunge raus, um mir die richtige Technik zu erklären, und ich werde nicht rot, sondern lache. Mitten im Geblubbere hält er inne. Was ist los? Er schaut ganz ernst. „Annette, was machen wir denn jetzt mit dir?“, fragt er in besorgtem Ton. Er guckt mich unverwandt an.
„Was ist denn los?“, frage ich ängstlich. „Ist es etwas Schlimmes?“
Anno scheint mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
„Sag schon!“, dränge ich ihn. Mir wird ganz mulmig.
„Du hast Talent!“, sagt er völlig überraschend.
Ich verstehe nicht recht. Talent? Was für ein Talent? Ein Talent zum Blubbern und Zischen? Anno ist immer noch ernst. „Du musst singen“, sagt er.
Ich soll Talent haben zum Singen? Ich habe noch nie in meinem Leben gesungen. Habe mich immer geschämt, wenn es ums Singen ging, und mich erfolgreich davor gedrückt. Anno bemerkt meine Irritation. Wenn ich ganz ehrlich bin, halte ich ihn in diesem Moment für verrückt. Aber das ist ja nicht weiter schlimm, dann bin ich wenigstens nicht die Einzige.
„Na ja, Anno“, komme ich ihm entgegen, „wenn es gesund ist, dann singe ich halt. Ob ich nun blubbere oder singe, Hauptsache, alles wird gut.“
Reise nach Istanbul
Ich sitze im Salon des Istanbuler Grand Hotel London, einem prunkvollen Hotel aus dem Jahre 1862, das ganz im Stil des Orientexpress eingerichtet ist und den Charme längst vergangener Zeiten versprüht. Hier steigen viele Künstler ab, zum Beispiel der türkische Filmregisseur Fatih Akin, aber auch Ernest Hemingway soll hier schon logiert haben. So wähne ich mich in bester Gesellschaft bei meinem Vorhaben, mich von alten Polstermöbeln, vergilbten Schnörkeltapeten und opulenten Kronleuchtern inspirieren zu lassen und meine ganz persönliche Geschichte aufzuschreiben.
Der Kofferboy, der mich gestern Abend in Empfang nahm und mich auf mein Zimmer brachte, ein nicht mehr ganz junger Mann mit buschigen Augenbraunen und wissendem Blick, erkundigte sich: „Na, im Urlaub hier?“
„Nein, ich bin zum Arbeiten hierhergekommen, zum Schreiben.“
„Dafür ist unser Hotel der richtige Ort“, sagte er. „Hier gibt es Ilham!“ Das ist der türkische Ausdruck für Inspiration.
Als Erstes rufe ich meine Freundin Rüya an. Es überrascht sie, dass ich in Istanbul bin, eigentlich habe ich hier ja privat nichts mehr „verloren“. Aber ich habe beschlossen, Istanbul für mich zurückzuerobern. Niemand darf mir diese Stadt nehmen, die mich so fasziniert. Rüya ist eine junge, intelligente Frau, die sich gerade für ein Stipendium im Ausland bewirbt, um dort ihre Doktorarbeit zu schreiben. Wir werden regelmäßig für Schwestern gehalten, auch sie hat Naturlocken, ist so groß wie ich und gilt unter ihren Freunden als selbstbewusste Powerfrau, beruflich auf jeden Fall.
Rüya und ich treffen uns vor dem Galatasaray-Lyzeum in der Istiklal Caddesi, mitten in der Fußgängerzone von Beyoğlu, einem Stadtviertel mit vielen Clubs, Cafés und Restaurants. Wir gehen in ein Café, in dem sich die Istanbuler Kulturszene zu treffen pflegt.
„Warum bist du hier?“, erkundigt sie sich.
„Ich habe angefangen, ein Buch zu schreiben.“
Ihr bewundernder Blick verrät, dass sie vermutlich an eine wissenschaftliche Abhandlung denkt.
„Worüber schreibst du?“
„Über Sex.“
Sie schaut mich fragend an und ich erkläre ihr mein 5L-Projekt.
„Es passieren so unglaubliche Dinge, es tun sich da neue Welten für mich auf.“
Sie staunt: „Dafür kommst du nach Istanbul?“
Ich muss selbst kurz nachdenken. Diese Reise nach Istanbul kam einfach so über mich, wie die meisten Dinge in meinem Leben, wenn der richtige Moment da ist. Ich spüre, dass ich hier, in der Höhle des Löwen, am Ort eines großen geplatzten Lebenstraumes den Geheimnissen meiner Metamorphose besser auf die Spur komme. Ich fühle mich wie eine Detektivin, die einen verzwickten Kriminalfall lösen muss. Ich muss den Mörder finden! Und als wäre ich Mata Hari, werde ich jeden Zentimeter meines Körpers zur Lösung dieses Rätsels einsetzen.
Eine leichte Melancholie in Rüyas Blick verrät mir, dass sie etwas auf dem Herzen hat. Ich muss nicht lange raten, längst habe ich einen siebten Sinn dafür entwickelt: Es geht um ihre Ehe. Sie und ihr Mann sehen sich kaum noch. Rüya arbeitet von morgens früh bis abends spät. Auch er arbeitet viel, vor allem nachts. Er ist Autor und schreibt dann seine Kurzgeschichten. Durch
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