Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
M anche Leute tun es, andere nicht. Nein, nicht von Turnen oder Abendgymnastik, mit oder ohne Zuschauer, ist die Rede. Manche Menschen machen sich die Mühe und führen ein Tagebuch. Manche gehen sogar, wenn sie mit diesem Tagebuch einmal im Rückstand sind, streng mit sich ins Gericht. Der 1740 in Edinburgh geborene berühmte Biograph Samuel Johnsons, James Boswell, schilt sich im Tagebuch: «Ich dürfte eigentlich nicht mehr erleben, als ich hier festhalten kann, genau wie man nicht mehr Korn säen sollte, als man in seiner Scheune unterbringen kann.» Und der 1633 geborene Samuel Pepys legte sogar ein schriftliches Gelübde ab, daß er jeweils sein Tagebuch geführt haben mußte, bevor er eine Frau küssen oder Wein trinken durfte; ein Gelübde, das seinem diaristischen Fleiß sehr auf die Sprünge half.
Warum aber unterzieht man sich dieser zeitraubenden, selbst auferlegten Pflicht, was ist der tiefere Sinn davon? Anders als beim Säen und Ernten dient sie ja nicht dem Überleben oder dem leiblichen Wohl. Und doch steckt offenbar etwas Elementares darin. Was genau es sei,das ist die erste Frage, der wir in dieser kleinen Promenade nachgehen wollen. Sie wird gefolgt von einer zweiten: Warum lesen wir Tagebücher so gern?
Eine Schar von Schriftstellern soll uns dabei begleiten, schon deshalb, weil viele eines geführt haben. Aber daß auch Seefahrer, Polarreisende, Herzöge, Hofdamen und Berliner Gören, daß auch Schauspieler und Biographen und Marinebeamte Tagebuch führen, wie die angeführten Burton und Boswell oder der grandiose Samuel Pepys, soll uns dabei nicht entgehen.
Letzterer mag uns, bevor wir uns ernsthaft an die Beantwortung der Fragen machen, rasch noch ein heute vergessenes Kosmetik-Mittel in Erinnerung rufen. Im Jahr 1664 notiert Samuel Pepys in seinem in Kurzschrift geführten Tagebuch, das erst hundert Jahre nach seinem Tod entdeckt wurde und heute als das bedeutendste Journal des 17. Jahrhunderts gilt: «Ärgerlich über meine Frau, die sich den Urin von jungen Hunden ins Gesicht geschmiert hat – wie Tante Wight, die damit etwas gegen ihr häßliches Gesicht tun will.»
Ob die Kur der Tante viel geholfen hat, bleibt ungeklärt. So ungeklärt wie die Frage, warum Mr. Pepys sieben Jahre nach einer geglückten Blasenstein-Operation, deren Jahrestag er sein Leben lang feierlich begehen wird – warum genau also Samuel Pepys sich im März 1665 der allerbesten Gesundheit erfreut. Ob es an der neuen Hasenpfoteliegt, die er als Talisman gegen Darmwinde trägt, oder daran, daß er seither den Rücken kühl hält – oder liegt es an der Terpentin-Tablette, die er jeden Morgen nimmt?
Hasenpfote oder Terpentin? Man sieht hier förmlich, wie sich die Strahlen der Aufklärung durch die Wolkendecke des Aberglaubens bohren oder es zumindest versuchen. Die Tagebücher Samuel Pepys’ sind auch wegen dieser geistesgeschichtlichen Großwetterlage ein einzigartiges und dabei außerordentlich offenherziges Dokument.
Pepys glaubt durchaus an die heilsame Wirkung von Talismanen, so wie seine Frau an die kosmetische von Welpenurin, aber er interessiert sich auch stark für die neuesten wissenschaftlichen Versuche, er macht optische Experimente, und er versäumt es nicht,
die seltsame Kreatur zu besichtigen, die Kapitän Holmes aus Guinea mitgebracht hat: ein großer Schimpanse, in vielem menschenähnlich, ich glaube aber, es ist eine Kreuzung aus einem Menschen und einem weiblichen Gorilla.
Als Leiter der Proviant-Abteilung im Flottenamt stand Samuel Pepys in ständigem Kontakt mit dem Hof. Was dachte der fast aufgeklärte Londoner von seinem Oberhaupt? Einerseits ist er stolz darauf, wenn er im Garten Mr. Petts Kirschen von demselben Baum ißt, «von demder König heute welche gepflückt hat». Andererseits muß er sich, wenn er den König einmal bei schlechtem Wetter sieht, eingestehen: «Es verringerte meine Achtung vor ihm, daß er nicht in der Lage zu sein scheint, dem Regen Einhalt zu gebieten.»
Er ist eben doch nur ein ganz normaler Mensch und keine Kreuzung von einem Menschen mit einem Halbgott. Der König – wenn wir uns hier gleich schon von Mr. Pepys fesseln und in seine Zeit hineinziehen lassen dürfen –, der König setzt den Respekt seiner Untertanen leider nur allzuoft aufs Spiel. Was Pepys da nicht alles zu hören bekommt … «Mr. Povy erzählt mir, daß der König die meiste Zeit damit verbringt, seine verschiedenen Damen nackt am ganzen Körper im Bett zu küssen;
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