Für alle Fragen offen
deutscher Sprache beträgt (angeblich!) achtzig Millionen Exemplare.
Jeder außerordentliche Erfolg hat Gründe, die nicht immer leicht zu erkennen sind. Der wichtigste im Fall Karl May: Seine Phantasie ist, ich gebe es zu, bewundernswert. Denn er ist nach Nordamerika und auch in den Vorderen Orient erst dann gereist, als schon die meisten seiner Bücher veröffentlicht waren. Und er beherrschte die Kunst, spannende
Geschichten zu schreiben. Trivialliteratur? Ja, aber alles in allem war er doch ein beachtlicher, ein, man muss es zugeben, erstaunlicher Erzähler.
Auch ich habe seine Romane einige Zeit gern gelesen. Ich war damals elf oder zwölf Jahre alt, ich habe es, wenn ich mich recht entsinne, auf (immerhin!) sechs seiner nicht dünnen Bände gebracht, insgesamt gab es schon beinahe sechzig. Im Gedächtnis hat sich mir vor allem die hochpathetische Trilogie Winnetou eingeprägt und Der Schatz im Silbersee .
Aber dann hatte ich von diesen hübschen grünen Bänden, die man von Schulfreunden leihen konnte, genug. Warum? Ich weiß es nicht mehr genau. Doch musste es mit dem Helden und Ich-Erzähler der in Nordamerika spielenden Bücher Karl Mays zu tun haben, mit Old Shatterhand. Er war schon ein märchenhaft großartiger Mensch: der Klügste, der Stärkste, der Mutigste, der Selbstloseste, der beste Schütze und Ringkämpfer weit und breit, er war edel, hilfreich und gut.
Heroisch rettete er die Bedrängten und die in Not Geratenen, stets war er auf der Seite der unterdrückten Völker, zumal der Indianer. Und zugleich war Old Shatterhand, was uns
Berliner Schülern der dreißiger Jahre besonders verächtlich vorkam – ein unerträglicher Wichtigtuer, ein ganz großer Angeber. Er behandelte die Bösewichter, wie sie es verdienten, er sorgte immer für Ordnung und Gerechtigkeit – wenn nicht mit der bloßen, mit der eisernen Faust, dann doch mit einer ungewöhnlichen Waffe, einer wahren Wunderwaffe. Heute erinnert uns dieses Wort an den Zweiten Weltkrieg. Mit der deutschen Wunderwaffe waren damals jene großen Hoffnungen verknüpft, die nie in Erfüllung gegangen sind.
»Und es mag am deutschen Wesen / Noch einmal die Welt genesen.« Diese Verse des i nzwischen vergessenen Poeten Emanuel Geibel aus Lübeck kannte ich damals wohl nicht. Aber es ging mir schon auf die Nerven, dass es bei Karl May immer ein Deutscher war, der in seinen Romanen dafür sorgt, dass am Ende natürlich das Gute siegt.
Vielleicht muss man Karl May durchmachen wie die Masern. Jedenfalls wünsche ich allen Lesern, dass sie diese Periode rasch überwinden. Doch den unverbesserlichen Karl-May-Enthusiasten will ich noch als Trost eine kleine (wahre!) Geschichte erzählen. Im
Januar 1967 diskutierte ich in Tübingen mit dem alten, damals sehr berühmten Philosophen Ernst Bloch – es war eine Aufzeichnung für den Rundfunk – über allerlei, und bald kam Bloch auf den von ihm sehr geschätzten Karl May zu sprechen. Er sei einer der farbigsten und bedeutendsten Erzähler der deutschen Literatur.
Ich erlaubte mir, dieses Lob etwas einzuschränken und den doch dürftigen Stil des Winnetou -Autors zu beanstanden. Bloch war anderer Ansicht: Hier sei, meinte er, die Sprache des Erzählers seinem Stoff, seinen Figuren und Motiven vollkommen angemessen. Das schien mir keineswegs eine logische, hingegen eine zweideutige Äußerung – und ich widersprach nicht mehr.
In jungen Jahren habe ich mit Begeisterung die Romane von Charles Dickens gelesen. Inzwischen hört man wenig von ihm. Was halten Sie von Dickens, und welches Werk ist sein wichtigstes?
Es stimmt nicht, dass man von Charles Dickens heute nur wenig höre. Jedoch: Seine Hauptwerke, die Romane Die Pickwickier , Oliver Twist und David Copperfi eld , sind in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erschienen. Sie sind immer noch gut und wurden auch mehrfach (zum Teil hervorragend) verfilmt, zuletzt Oliver Twist im Jahre 2006.
Ich habe diese drei Romane vor bald siebzig Jahren gelesen und auch beinahe alle Filme gesehen – mit Interesse und Respekt und mit viel Vergnügen. Am meisten hat mich David Copperfi eld beeindruckt. Ob mein Urteil jetzt noch gilt? Ich weiß es nicht. Ich müsste den Roman, um dieses Urteil zu überprüfen, noch einmal lesen. Ich werde es nicht tun. Wundert Sie das? Aber ohne abermalige Lektüre kann ich nicht bestätigen, dass es Dickens war, der die Nützlichkeit der Romanform für die Gesellschaftskritik entdeckt hat und sich damit große Verdienste
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