Für immer zwischen Schatten und Licht ("Schatten und Licht"-Saga 2) (German Edition)
grobgestrickten grauen Wollschal.
„Bringst du mich jetzt etwa in die Antarktis?“, neckte ich ihn, aber zu meiner Überraschung lachte Rasmus nicht mit.
„Ich friere in letzter Zeit einfach schnell. Bin die Kälte wohl noch nicht richtig gewöhnt.“
„Im Winter hattest du doch keine Probleme damit, oder?“
„Wahrscheinlich war da noch ein Rest Engelsblut in mir übrig, der sich jetzt endgültig verflüchtigt hat“, sagte er achselzuckend und nahm meine Hand. „Los, wenn wir den Blutmond nicht verpassen wollen, müssen wir uns beeilen.“
Obwohl ich es absolut nicht gewohnt war, etwas Verbotenes zu tun, fühlte ich mich erstaunlich sicher, während wir an den Zelten vorbei in Richtung Wald schlichen. Es war nach dem Regen tatsächlich recht kühl geworden, aber die Wärme von Rasmus‘ Fingern schien direkt in meinen Körper zu fließen. Im Gehen schaute ich immer wieder zur kreisrunden Lichtscheibe hinauf, deren Rand bereits im Schatten lag. Die Finsternis breitete sich von Minute zu Minute weiter aus, und ich dachte daran, was Professor Osorio uns über die chinesische Mythologie erzählt hatte: Es sah wahrhaftig so aus, als würde der Mond allmählich verschlungen. Dieses Schauspiel zu beobachten, war zugleich unheimlich und faszinierend, und ich bedauerte es, dass uns nach dem Betreten des Waldes von den Baumwipfeln die Sicht auf den Himmel versperrt wurde.
„Also“, sagte ich einige Minuten später, während ich zum wiederholten Mal mein Hosenbein von einer Brombeerranke befreite, „mir war nicht klar, dass du das mit dem Entführen so ernst meinst.“
Rasmus lachte und drückte meine Hand noch ein bisschen fester. „Wir sind so gut wie da.“ Er hob den Zweig eines Strauches hoch, damit ich darunter durchschlüpfen konnte, und betrat hinter mir eine Waldlichtung.
Mit angehaltenem Atem starrte ich auf den Turm, der vom schwindenden Mond in fahles Licht getaucht wurde. Dann drehte ich mich zu Rasmus um. „Ich wusste nicht, dass die Aussichtswarte so nahe ist!“
„Ein guter Orientierungssinn gehört eben nicht zu deinen zahlreichen Stärken“, zog Rasmus mich auf, sichtlich zufrieden mit der gelungenen Überraschung.
Als ich das Eingangstor öffnete, drang ein hektisches Flattern aus dem stockdunklen Inneren der Warte – vermutlich hausten hier ein paar Fledermäuse. Das konnte mich allerdings nicht zurückhalten, so rasch wie möglich die Leiter zum Obergeschoss hochzuklettern, um das Turmzimmer wiederzusehen. Rasmus leuchtete mir mit der Taschenlampe den Weg, während er dicht hinter mir die Sprossen hinaufstieg und durch die Luke kroch.
Einen Moment lang blieb ich still sitzen, atmete den leicht modrigen Geruch ein und ließ den Anblick des Ortes auf mich wirken, an dem ich zum ersten Mal von Rasmus‘ Herkunft erfahren hatte. Mit der gemütlichen Stube von damals hatte der Raum allerdings nicht mehr viel gemeinsam: Obwohl es sehr umständlich gewesen war, die Möbel aus dem Turm zu transportieren, hatte Rasmus aus Sparsamkeit die meisten davon auseinandergenommen und in seinem neuen Apartment wieder aufgebaut. Neben ein paar spärlichen Überresten der Einrichtung erinnerten nur noch die weißen Schriftzüge auf dem Boden daran, dass der Turm bis vor einigen Monaten bewohnt gewesen war.
Gedankenverloren hatte Rasmus an meiner Seite „Alle Kinder, außer einem, werden erwachsen“ mit dem Finger nachgezogen. Nun stand er auf und ging zu der rechteckigen Fläche, die frei von Literaturzitaten war. Über dieser Stelle, an der früher sein Bett gestanden hatte, war ein Fenster in die Dachschräge eingelassen. Rasmus öffnete es, und als ich neben ihn trat, hatte ich direkten Blick auf den Mond, der inzwischen zu zwei Dritteln von der Dunkelheit verschluckt worden war.
„Lily?“, sagte Rasmus plötzlich, und es klang unerwartet ernst. „Ist eigentlich irgendwas nicht in Ordnung?“
Ich sah zu ihm hinüber, aber er hielt die Augen weiterhin zum Himmel erhoben. „Wieso fragst du?“
„Na ja, du wirkst seit gestern ziemlich gestresst. Also – noch mehr als sonst“, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu. „Ist es wegen … Ich weiß auch nicht, vielleicht wegen etwas, das ich gesagt habe?“
Erstaunt schüttelte ich den Kopf. „Nein, gar nicht“, versicherte ich ihm, merkte aber selbst, dass ich keinen überzeugenden Eindruck machte. Zur Ablenkung redete ich eilig weiter: „Jetzt kann es nicht mehr lange dauern, oder? Wollen doch mal sehen, ob der Blutmond wirklich
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