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Fürchte dich nicht!

Fürchte dich nicht!

Titel: Fürchte dich nicht! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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immer längeren Ketten verbanden, die irgendwann die Fähigkeit zur Fortbewegung und zur Reproduktion entwickelten. Einzeller, die sich unter dem Druck der Evolution zu komplizierteren Gebilden steigerten, zu Fischen, Dinosauriern, Säugetieren und Menschen.
    Doch nicht nur die Vergangenheit, auch die Zukunft war bekannt. Nach dem Gesetz der Entropie, das der Ordnung aller Dinge eine Richtung aufzwang, nämlich vom Zustand der höheren zum Zustand der geringeren, würden irgendwann alle Sterne erlöschen und die Materie würde zerbröseln, bis nur noch Atomteilchen durch das dunkle Weltall waberten. Nicht einmal der Schatten einer Erinnerung würde übrig bleiben. Gott, falls er für das unaufhaltsame, determinierte Geschehen eine Verantwortung trug, versteckte sich im Wimpernschlag des Urknalls. Allerdings arbeitete ein Heer von theoretischen und experimentellen Physikern daran, ihn auch dort zu eliminieren.
    Ja, er las die wissenschaftlichen Bücher mit Genuss und Hingabe, suhlte sich in Weltanschauungen, die ohne höheres Wesen auskamen. Das war sein Ketzertum, dem er sich in den Abend- und Nachtstunden hingab, nachdem er am Tag für Gott und Kirche seinen Mann gestanden hatte. Felsenfest, wie es sich für einen Weihbischof gehörte.
    Jahrzehntelang hatte er mit dieser Schizophrenie gelebt, die Spaltung zwischen gläubigem Kirchenmann und wissenschaftlichem Skeptiker ausgehalten. Es gab keinen Grund, die Tarnung aufzugeben, er war gut in seinem Job, verfügte über rhetorisches Talent, konnte mit Menschen umgehen und manchmal blitzte sogar ein Hauch von Charisma auf. Wenn alles nach Plan lief, würde er bald einen Bischofssitz bekommen.
    Was stand jetzt auf dem Programm? Programm? Hatte er das wirklich gedacht? Er musste lächeln. Etwas war heute anders als sonst. Der Freigeist löckte wider den Stachel, versuchte die Routine des Sonntagsgottesdienstes zu stören.
    Schon gestern Nachmittag, als er die Predigt schrieb, hatte er sich über sich selbst gewundert. Immer wieder waren ihm persönliche Bekenntnisse in den Text gerutscht, die dort nicht hingehörten. Man erwartete Erhabenes und Erbauliches von ihm, nichts Menschliches. Vermutlich lag es an der Erkältung, die ihn seit gestern plagte. Er fühlte sich fiebrig, sein Mund war trocken, die Kehle kratzig. Nach der Messe würde er sich hinlegen und die Krankheit ausschlafen.
    Ach ja, das Markus-Evangelium: »Er sagte zu ihnen: Zündet man etwa ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber oder stellt es unter das Bett? Stellt man es nicht auf den Leuchter? Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommt. Wenn einer Ohren hat zum Hören, so höre er!«
    Was würde Jesus wohl sagen, wenn er den heutigen Wissensstand besäße? Würde er nicht darauf bestehen, seine Lehre weiterzuentwickeln, den Stillstand verurteilen, den seine Kirche seit fast zweitausend Jahren praktizierte? War es nicht an der Zeit, einen ganz neuen Zugang zu den spirituellen Bedürfnissen der Menschen zu suchen?
    Ein Schwindel erfasste ihn, die Orgel dröhnte und der Weihrauch tat ein Übriges. Himmel, der Weihrauch würde ihn noch betäuben. Der Gestank war einfach unerträglich heute. In den Augenwinkeln verfolgte er, wie im Seitenschiff eine alte Frau von der Bank rutschte. Kein Wunder bei diesen Gerüchen. Beim nachfolgenden gemeinsamen Gebet klappte er nur den Mund auf und zu. Dann trat er an das Mikrofon.

    »Liebe Schwestern und Brüder!« Seine heisere Stimme kroch durch den Dom, streunte zwischen den Säulen herum. »Was meinte Jesus damit, als er sagte: Wer Ohren hat zum Hören, der höre ? Meinte er nicht, dass wir uns sämtliche Erkenntnisse nutzbar machen sollen, nicht nur die, die in unser Weltbild passen?«
    Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, er ließ das Blatt sinken. »Ich würde Ihnen gerne etwas Persönliches mitteilen.« Sein Gekrächze verkam zu einem Flüstern, trotzdem hatte er die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden, einige beugten sich vor, um ihn besser zu verstehen. »Ich glaube nicht an Gott, schon lange nicht mehr. Unsere Welt funktioniert sehr gut ohne Gott. Götter wurden erfunden, als die Menschen noch nicht verstanden, warum es blitzt und donnert, warum manche Ernten gut ausfallen und andere nicht. In unserer heutigen Zeit ist Gott überflüssig. Um sich anständig und moralisch zu verhalten, um die anderen wie sich selbst zu lieben, ist kein Gott nötig, dazu reicht ein wacher Verstand und ein

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