Fürchte dich nicht!
bisschen Einfühlungsvermögen. Wer das nicht hat, dem wird auch Gott nicht helfen. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich will Ihnen Ihre Krücke nicht rauben. Wenn Sie Gott brauchen, um mit Anstand und Zuversicht durchs Leben zu gehen, dann glauben Sie an ihn. Ich, sein Priester, kündige ihm hiermit die Gefolgschaft.« Der Weihrauch stieg als weißer Nebel auf, locker und leicht wie eine Wolke in einem Hochtal. »Ich weiß nicht, welcher Dämon mich treibt, Ihnen das zu verraten – falls Sie mir diesen kleinen Wortwitz gestatten.« Er lachte und blickte in entsetzte Gesichter. Sie waren erschüttert, steifgefroren bis ins Mark. Die Alten, denen der Tod bereits im Nacken saß; die jungen Eltern, deren Sprösslinge auf den Bänken herumkrabbelten; die Korpsstudenten, die ihre Mützen in den Händen hielten.
Der Nebel wurde dichter, knäulte sich zu einem Kopf mit Augen und Ohren. Ihm fiel auf, dass die Wunden der Christusfigur am Kreuz heller leuchteten als sonst. Es schien, als seien sie frisch aufgebrochen. Der Nebel raste auf ihn zu.
Ihm wurde schlecht.
25
B54, Münster-Ochtrup
»Ganz schön reißerisch«, sagte Geis.
Eine hundertfach vergrößerte Zecke kroch über die Titelseite eines Boulevardblattes und versenkte ihren Stechrüssel in einer Hautlandschaft, aus der einzelne Haare wie kahle Bäume aufragten. Monsterzecken im Vormarsch?, lautete die alarmrote Überschrift, kleiner und sachlicher darunter: Wissenschaftler warnen vor neuer Krankheit.
»Immerhin haben sie es gebracht«, gab Viola zurück. »Die meisten seriösen Zeitungen sind anscheinend auf Heiners Dementi hereingefallen.«
Bis auf vier kleine Artikel, in denen die kritische Stellungnahme des Pressesprechers aus dem Gesundheitsministerium mehr Platz einnahm als die eigentliche Meldung, hatte sie in dem Stapel Zeitungen, der zu ihren Füßen lag, nichts gefunden. Nur das Boulevardblatt war mit einem großen Aufmacher herausgekommen.
»Was hat dein Ex gesagt?«, fragte Geis.
Sie zischte. »Unterlass bitte alle Anspielungen auf meine intimen Beziehungen zu diesem Menschen! Es ist mir ein Rätsel, wie ich mit so jemandem ins Bett gehen konnte.« Sofort bereute sie die Bemerkung. Geis würde nur auf dumme Gedanken kommen. So gern sie ihn auch mochte, das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte, war ein Typ, der mit ihr seine sexuellen Bedürfnisse ausleben wollte.
Viola strich die Zeitung glatt. »Ich zitiere: › Gerüchte über eine neue Form der FSME entbehren jeglicher Grundlage‹, versichert Heiner Stegebach, Sprecher des Gesundheitsministers. In vereinzelten Fällen sei es in letzter Zeit zu schweren Verlaufsformen der FSME gekommen. Dies sei jedoch nicht ungewöhnlich, vielmehr bewege sich die Zahl der Erkrankungen im normalen Rahmen. ›Offenbar‹, so Stegebach weiter, ›wird unter dem Deckmantel der Anonymität versucht, die Bevölkerung zu beunruhigen und Panik zu schüren.‹ Behauptungen, dass eine Krankheitswelle drohe, müsse vonseiten der Bundesregierung energisch widersprochen werden. Ungeachtet dessen sei es natürlich sinnvoll, sich gegen FSME impfen zu lassen. Dies gelte insbesondere … Bla, bla.« Wütend schlug Viola die Zeitung zu und wollte sie schon zu den anderen im Fußraum von Geis’ Wagen werfen, als ihr ein Artikel auf der Rückseite ins Auge sprang. Schnell überflog sie den Text. »Das ist ja verrückt.«
»Was?«
»Ein Weihbischof hat während der Messe erklärt, dass er nicht mehr an Gott glaubt. Dann ist er zusammengebrochen und wird jetzt mit Verdacht auf FSME behandelt.«
»Wo war das?«
»Du wirst es nicht glauben: in Münster. Im Paulus-Dom von Münster.«
»Du denkst …«
»Der Verdacht liegt nahe, oder? Wahrscheinlich hat der gute Mann seinen Glauben schon vor längerer Zeit verloren. Unter dem Einfluss der neuen FSME traut er sich, seine Überzeugung auszusprechen. Und das bedeutet, Martin, dass diejenigen, die infizierte Zecken freisetzen, vor Kurzem auch in Münster waren.«
»Könnte der Weihbischof nicht Urlaub auf Norderney gemacht haben?«
»Möglich, ja. Aber ich tippe darauf, dass die Zecken gezielt an verschiedenen Orten ausgebracht werden. Das würde erklären, warum die jüngsten FSME-Fälle hauptsächlich in Großstädten aufgetreten sind.«
»Wieso ist es eigentlich notwendig, dass jemand die Viecher transportiert? Verbreiten die sich nicht von alleine?«
»Nein«, lachte Viola. »Zecken sind von Natur aus faul. Am liebsten verbringen sie ihre Zeit regungslos in
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