Fürchte dich nicht!
Antidepressiva, betäuben ihre Angst mit Alkohol, Drogen und Sex.
Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Angst ist längst zum Lebensgefühl geworden. Wer sich nicht ängstigt, lebt verkehrt, die Angstschürer bestimmen, worüber diskutiert wird: Welche Gefahren birgt die Klimaerwärmung? Wann überrollt uns eine weltweite Epidemie? Wo findet der nächste Terroranschlag statt? Was kommt nach dem Ölpreis-, Bildungs- und Rentenschock? Ist die Weltwirtschaftskrise noch zu stoppen? Frisst ein schwarzes Loch die Erde auf?
Ängste lassen sich jederzeit mobilisieren, mit Zuversicht kann man kein Geld verdienen oder Politik machen. Es wird Zeit, die Amygdala zu entmachten. Du weißt, wovon ich spreche, Viola.
Ich bin nicht allein. Wir werden immer mehr, entschlossen, der Angst zu trotzen. Und wir können es schaffen. Du wirst sehen, Viola: Die Welt ist bunt und schön.
Vierter Teil
Das Wachstum
24
Münster, Paulus-Dom
Himmel. Hölle. Gott. Worte, nichts als Worte. Auch wenn sie an einem Ort wie diesem bedeutungsvoll klangen, sich an den Sandsteinmauern brachen und durch das Kirchenschiff hallten, bis ihre Wellen auch die Hartleibigsten erschütterten. Hier wollte man an das Jenseits glauben, an ein Leben nach dem Tod, an ein höheres Wesen und einen göttlichen Plan, der die Naturgesetze durchkreuzt. O ja, die Architekten des Mittelalters, die Baumeister von Kathedralen wie dieser waren geschickte Psychologen, die mit ihrem Handwerk das göttliche Wirken unterstützten. Wer in diesen Hallen noch Zweifel hatte, gehörte auf den Scheiterhaufen.
Lasset uns beten!
Zu wem? Dem Gott, den Abraham aus Ur mitbrachte, als er nach Kanaan zog? Einen jener sumerischen Hausgötter, die von den zivilisierten, städtischen Familien, zu denen auch Abrahams Sippe gehörte, verehrt wurden. Nicht mehr als ein Schutzpatron, dem man täglich kleine Opfergaben weihte. Der mit Abraham feilschte, sich kritisieren und auslachen ließ und Angeboten nicht abgeneigt war. Der Menschengestalt annahm und mit Abraham und Sara im Zelt sitzend das Fladenbrot teilte. Der Moses seinen Namen verriet: JHWH. Was auch immer das bedeuten mochte.
Nein, es ging nicht. Er schaffte es nicht mehr. Er konnte sich nicht mehr selbst belügen. Er glaubte nicht an Gott und den Himmel, nicht an den Teufel und die Hölle, nicht an all die naiven kollektiven Vorstellungen, die sich die Menschheit in ihrer Urgeschichte konstruiert hatte, aus Angst vor dem Sterben, aus Sehnsucht nach einer höheren Macht und einem übermenschlichen Sinn. Vorstellungen, die sich fast unverändert bis in die heutige Zeit erhalten hatten und die er, Kraft seines Amtes, von der Kanzel verkünden sollte. Um die da unten, die treuherzig zu ihm aufschauten, über die Zweifel hinwegzutrösten, ihnen ein wenig Morphium mitzugeben für die Leere und die Banalität des Alltags.
Zweifel waren im Priesterseminar das tägliche Brot gewesen, das er mit den anderen Seminaristen teilte. Man redete heimlich oder offen darüber, gestand sie sich ein oder verdrängte sie, flüchtete sich in Rituale und Formeln. Nur die wenigsten fanden den Mut, die logischste aller Konsequenzen zu ziehen – und zu gehen. Wie hatte er sie gehasst! Die Aufgeber , wie er sie nannte, die von einem Tag auf den anderen verschwanden, die ihm später, wenn er sie zufällig traf, vollkommen fremd waren, in einem bürgerlichen Beruf, mit Frau und Kindern, fernab von Gott.
Die Zweifel hatten ihn nicht verlassen, sie waren nur leiser geworden. Als er aufstieg, vom Priester zum Professor und zum Weihbischof, durfte er sie nicht mehr äußern, jetzt erwarteten andere von ihm, dass er sie stärkte in ihrer Not, dass er Zuversicht ausstrahlte und das Unvereinbare für vereinbar erklärte: Wissenschaft und Glaube.
Vater unser im Himmel …
Kinderreime. Alles, alles war erklärbar. Nun gut, die ersten Mikrosekunden nach dem Urknall waren noch unklar. Aber ab dann, ab dem ultraheißen Quark-Gluon-Plasma winzige Sekundenbruchteile nach dem Anfang unserer Welt, ließ sich alles herleiten. Über die Entstehung von Atomkernen, die sich mit Elektronen zu ersten Elementen verbanden, der Bildung von Gaswolken, Riesensternen, schwarzen Löchern und schließlich Galaxien, die heute, dreizehn Komma sieben Milliarden Jahre nach dem Punkt null, durch das sichtbare Universum trieben. Erklärbar, dass sich auf dem dritten Planeten eines Standardsterns im äußeren Spiralarm einer Galaxie Bedingungen ergaben, unter denen sich Moleküle zu
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