Fürchte dich nicht!
legte er den Arm um ihre Schulter und verstand nicht, warum sie zusammenzuckte und sich losriss.
22
Münster, Aasee
Wie sollte Geis sie verstehen, sie verstand sich ja selbst nicht. Sie mochte ihn, sie fühlte sich zu ihm hingezogen – und gleichzeitig konnte sie es nicht ertragen, wenn er sie berührte. Das Schneewittchen-Syndrom nannte sie es sarkastisch: ein Leben wie im Sarg, nur bestanden die Wände nicht aus Glas, sondern aus Angst, einem viel haltbareren Stoff.
Viola schirmte die Augen mit der Hand ab und ließ den Blick über den See schweifen. Geis hatte vorgeschlagen, zum Aasee zu fahren und dort etwas zu essen. Und da die Sonne dafür sorgte, dass sich die Temperaturen in angenehmen Bereichen bewegten, hatten sie sich für die Terrasse eines Restaurants entschieden, wenige Meter vom Seeufer entfernt. Geis kannte sich in Münster aus und Viola musste zugeben, dass der Ort gut gewählt war. In einem anderen Leben hätte sie ihn vermutlich idyllisch genannt: Neben drei gigantischen Betonkugeln lagen Hunderte von Studenten im Gras, auf dem Wasser kreuzten bunte Segelschiffe und sogar die unermüdlichen Jogger wirkten entspannt. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die sie mal aufgeschnappt hatte, sie handelte von einem Trauerschwan, der sich in ein weißes Tretboot verliebt hatte. Und tatsächlich, das ungleiche Gespann war keine Erfindung der Medien, es schwamm in der Nähe der Steintreppe, die unterhalb der Wasseroberfläche endete.
»Da drüben!« Sie streckte ihren Zeigefinger aus.
»Ja. Ich sehe sie auch.«
»Wir könnten uns duzen, findest du nicht?« Sie hob ihr Glas mit Apfelsaftschorle. »Ich heiße Viola.«
Er blinzelte überrascht. »Und ich Martin.«
Nach dem Essen gingen sie bis zu der Brücke, die den Aasee in der Mitte überquerte, und auf der anderen Uferseite wieder zurück. Viola erfuhr von Dr. Habibis Festnahme und dem, was danach geschehen war.
»Ich kann dich verstehen«, sagte sie. »Ich habe ihn ja nur kurz kennengelernt, aber Habibi ist der Letzte, dem ich Verbindungen zum Terror zutrauen würde.«
»Trotzdem habe ich Goronek mit meinem Auftritt einen Gefallen getan. Er hat doch nur auf eine Gelegenheit gewartet, mir den Stuhl vor die Tür zu setzen.«
»Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Ich habe das selbst verbockt.«
Viola sah ein Paar, das im hohen Ufergras lag. Ideales Jagdrevier für Zecken. »Abgesehen von der Suche nach Terroristen: Was geschieht auf Norderney, um die Bevölkerung und die Touristen zu schützen?«
»Einiges. Überall wird vor Zecken und FSME gewarnt. Die Parks sind gesperrt und die Geldstrafen für das Betreten der Dünen verdoppelt worden. Außerdem findet eine groß angelegte Impfaktion statt. Mir können die Zecken jetzt auch nichts mehr anhaben.« Geis deutete auf seinen Oberarm.
»Da täuschst du dich.«
Er blieb stehen. »Wieso?«
»Weil der Impfstoff nicht wirkt.«
»Aber du hast doch gesagt …«
»Da wusste ich noch nicht, was ich heute weiß. Diejenigen, die das Virus manipuliert haben …«
»Goroneks islamische Terroristen.«
»Wer auch immer. Sie haben nicht nur das Anti-Angst-Protein in die RNA geschmuggelt, sondern auch die Oberfläche des Virus verändert. Damit wird verhindert, dass die durch den alten Impfstoff gebildeten Antikörper am Virus andocken und es unschädlich machen können.«
»Heißt das, es gibt keinen Schutz?«
»Zurzeit nicht. Nein.«
»Und warum sagt das niemand?« Geis trat mit der Schuhspitze gegen eine vergilbte Zeitung, die auf dem Gehweg lag. Die Schlagzeile Bremer Amokfahrer tötet zwei Menschen verschwand unter einer Parkbank. »Wieso habe ich davon nichts im Radio gehört? Wieso steht das in keiner Zeitung?«
»Darüber kann ich nur spekulieren. Vielleicht will man zuerst die Täter finden. Oder eine Panik verhindern. Oder den Europäischen Gipfel auf Norderney nicht gefährden. Irgendeinen Grund wird es geben. Ich bin sicher, dass Professor Blechschmidt auf Anweisung von oben handelt. Es passt nicht zu ihm, dass er solche Informationen zurückhält.«
»Und in der Zwischenzeit sterben Menschen«, regte sich Geis auf. »Ich finde, wir müssen etwas tun.«
»Ich könnte Heiner fragen, was die Bundesregierung vorhat«, sagte Viola.
»Wen?«
»Heiner Stegebach, Sprecher des Gesundheitsministeriums. Mein Exfreund. Er hat in den letzten Tagen ein paarmal versucht, mich anzurufen.«
Ohne Geis’ Zustimmung abzuwarten, zog sie ihr Handy aus der Tasche.
Heiner meldete sich nach dem zweiten
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