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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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zu trinken, den man mochte. River mochte ich. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu und sah einen anmutigen, schlanken Jungen in einer Leinenhose, der dastand, als würde die Stadt ihm gehören. Aber auf eine gute Art. Mir gefiel es, wie er leicht die Augen zusammenkniff, bevor er an seinem Latte nippte, als wüsste er nicht, was ihn erwartete.
    Eine Weile lang stand ich einfach so neben River, trank meinen Kaffee und schaute mich in der hübschen kleinen Parkanlage um, bis ein ausgemergelter grauhaariger Mann um die Ecke gestolpert kam, stehen blieb und vorwurfsvoll in den Himmel starrte, als hätte die Sonne ihn beleidigt. Es war Daniel Leap, der seinen immer gleichen abgewetzten braunen Tweedanzug trug. Er war betrunken. Aber das war er ständig. Normalerweise versuchte ich, Mitleid mit ihm zu haben. Doch in diesem Moment verschandelte er den ansonsten wunderschönen Ausblick auf meine Stadt, und plötzlich packte mich eine unglaubliche Wut auf ihn, die der ähnelte, die man empfindet, wenn man sich ein hübsches Kleid bekleckert oder in einem Glas mit köstlicher, eiskalter Limonade eine Fliege entdeckt.
    »Daniel Leap hat uns die Aussicht kaputt gemacht«, sagte ich.
    »Wer?«, fragte River.
    »Daniel Leap. Er wäre unser Stadtexzentriker, wenn wir diesen Titel nicht schon Nathan Keane verliehen hätten, dem Mann mit dem gebrochenen Herzen, dem das Antiquariat gehört. Also ist Daniel Leap unser Stadtsäufer.«
    »Ich mag Exzentriker«, antwortete River.
    Ich lächelte.
    In diesem Moment entdeckte Daniel mich. »Violet White«, rief er zu mir rüber. Er blieb unter einer der Eichen stehen, fuchtelte mit erhobenem Zeigefinger durch die Luft und lallte vor sich hin, bis die Worte zusammenliefen wie Farben, die von einer Leinwand tropfen.
    »Violet White«, sagte er noch einmal, »ist eine aufgeblasene Wichtigtuerin, die sich für was Besseres hält, genau wie die ganzen anderen Whites vor ihr und die Glenships – bevor wir sie aus der Stadt gejagt haben. Alles aufgeblasene Wichtigtuer, schon immer gewesen. Leben in ihrem riesigen Schloss am Meer, haben von nichts eine Ahnung und tun trotzdem so, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Dabei könnte ich ihnen das eine oder andere erzählen …«
    So ging das schon seit Jahren jedes Mal, wenn Daniel Leap mich oder meinen Bruder oder meine Eltern sah, und ich hatte mich daran gewöhnt. In seinen Monologen ging es immer um dasselbe: dass wir aufgeblasene Wichtigtuer wären und er uns das eine oder andere erzählen könnte. Als ich meinen Vater einmal fragte, ob es zwischen Daniel Leap und unserer Familie irgendwann einmal böses Blut gegeben hatte, hatte er bloß achselzuckend nach seinem Pinsel gegriffen, sich wieder seiner Leinwand zugewandt und gesagt: »Wer weiß schon, was in den Köpfen solcher niedrigen Individuen vor sich geht.«
    Der Vorwurf mit den aufgeblasenen Wichtigtuern war also vielleicht nicht völlig aus der Luft gegriffen.
    Ich beschloss, Daniel Leap zu ignorieren und zum Lebensmittelladen am Ende der Straße zu gehen, als River mich am Arm festhielt. Ich sah ihn an, aber sein Blick war auf Daniel Leap gerichtet.
    River war wütend. Seine Augen waren nur noch schmale Schlitze, seine Wangen gerötet und sein Körper war angespannt. Er festigte den Griff um meinen Arm.
    »Ist schon okay«, sagte ich und winkte mit der freien Hand ab, als wollte ich eine Fliege verscheuchen. »Er gibt immer solche Sachen von sich, wenn er einen von uns sieht. Ich habe mich daran gewöhnt.«
    River schüttelte den Kopf. Es war nur eine ganz kurze Bewegung. »Man sollte sich nie daran gewöhnen, wenn jemand so über einen spricht.«
    Daniel Leap ließ die Hand sinken, mit der er auf mich gezeigt hatte. Er stand einen Moment lang schwankend da und fiel dann zu Boden.
    »Siehst du«, sagte ich zu River. »Jetzt ist er ohnmächtig geworden und kann sowieso nichts mehr sagen. Los, wir gehen einkaufen.«
    River drehte sich um und sah mich an. Er lächelte und wirkte wieder völlig entspannt, in seinen Augen lag keine Spur von Wut mehr. »In Ordnung. Wo müssen wir lang?«
    Der Lebensmittelladen führte Obst und Gemüse von Farmern aus der Umgebung, es gab dort aber auch Mandelmilch und Nüsse und Gewürze, die man sich selbst abfüllen konnte. Ich war von Sunshines Eltern auf den Geschmack für Naturkost gebracht worden. Cassie und Sam hatten einen kleinen Gemüsegarten hinter ihrem Haus angelegt, auf dem einzigen Fleck Land auf ihrem bewaldeten Grundstück,

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