Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
hatte – der Duft nach heißem Zimt legte sich wie eine warme Decke auf mich, und die Zuckerkristalle schmolzen auf meiner Zunge wie Schnee.
River ging in die Hocke und begann, die Schränke zu durchstöbern. Dabei rutschte ihm hinten das Hemd aus der Hose, und ich starrte auf die gebräunte Haut, die hervorblitzte.
Auf einmal überkam mich das Bedürfnis, die nackte Stelle auf seinem Rücken zu küssen. Es war das erste Mal, dass ich einen Jungen küssen wollte. Bei den Jungs, mit denen Luke und Sunshine mich in den Wandschrank gesperrt hatten, hatte ich so etwas noch nie empfunden. Keiner der ungehobelten Kerle in unserer Stadt hatte jemals in mir den Wunsch geweckt, ihn zu küssen.
Aber River war … er war …
»Violet?«
Ich blinzelte und begegnete seinem Blick. Er schaute über die Schulter und beobachtete mich dabei, wie ich ihn beobachtete. »Ja?«
»Kannst du mir eine Pfanne geben? Aber keine beschichtete, ich hasse diese Teflondinger. Eine aus Gusseisen oder Edelstahl wäre gut.«
Ich fand im Schrank neben der Spüle eine alte gusseiserne Pfanne und stellte sie auf den Herd. Für einen kurzen Augenblick sah ich Freddie vor mir, wie sie sich als junge Frau nach einer durchtanzten wilden Nacht mit langer Perlenkette und keck auf dem Kopf sitzenden Hütchen über genau diese Pfanne beugte und Omelette machte.
»Perfekt.« River zündete die Gasflamme an und gab etwas Butter in die Pfanne. Danach schnitt er vier Scheiben von dem Baguette ab, rieb sie mit einer Knoblauchzehe ein und bohrte dann in jede Scheibe ein Loch. Anschließend setzte er sie in die Pfanne und zerschlug jeweils ein Ei darüber. Die Dotter in den Löchern leuchteten hellorange, was – wie ich von Sunshines Dad gelernt hatte – ein Zeichen dafür war, dass die Eier von sehr glücklichen und unter freiem Himmel lebenden Hühnern gelegt worden waren.
»Voilà: Ei im Korb.« River lächelte mich an.
Als die Eier fertig waren, ließ er sie auf zwei Teller gleiten, schnitt eine Tomate in kleine Würfel und verteilte sie darüber. Die Tomate war ein paar Kilometer außerhalb von Echo im Gewächshaus eines friedliebenden Menschen gewachsen und war rot wie die Sünde und reif wie die Mittagssonne. River gab noch etwas Meersalz und Olivenöl über die Tomatenstückchen und reichte mir anschließend einen der Teller.
Ich leckte mir über die Lippen. Aber nicht so, wie Sunshine es getan hätte. In der Geste lag keinerlei Berechnung, mir lief einfach das Wasser im Mund zusammen. Ich ließ die Gabel auf dem Tisch liegen, nahm das Brot mit der Hand vom Teller, biss hinein, kaute, schluckte – und lachte.
»Gott, ist das lecker, River. Wo hast du so gut kochen gelernt?« Mir liefen Olivenöl und Tomatensaft über das Kinn, aber das war mir egal.
»Ganz ehrlich? Meine Mutter ist Köchin.« River lächelte sein schiefes, vielsagendes Lächeln. »Das hier ist die amerikanische Version einer italienischen Bruschetta.«
Ich biss ein zweites Mal von dem Brot ab, und wieder war es, als würden die Geschmacksknospen in meinem Mund einen Freudenschrei ausstoßen. Ich schluckte und wollte gerade den nächsten Bissen nehmen, als mir etwas einfiel. Stirnrunzelnd schaute ich zu River auf.
»Hast du nicht erzählt, deine Mutter wäre Archäologin?«
River erwiderte meinen Blick mit einem amüsierten Lächeln auf seinen vom Olivenöl glänzenden Lippen. »Hab ich das?«
»Ja.«
Er zuckte mit den Achseln. »Tja, dann habe ich wohl gelogen. Die Frage ist bloß, bei welchem Mal?«
Ich musste lachen. River verdrehte einem völlig die Sinne, aber wenn er einen mit seinem schiefen Lächeln ansah, kam man sich albern vor und stellte keine Fragen mehr. Und dadurch, dass er sich benahm, als wäre das alles überhaupt nicht wichtig, fand man es plötzlich auch nicht mehr wichtig.
Während ich erneut von meiner Spiegelei-Bruschetta abbiss, wurde mir auf einmal klar, dass ich River gerade mal einen Tag kannte. Einen einzigen Tag. Heute Morgen hatte ich noch auf der Treppe gesessen, Kurzgeschichten von Nathaniel Hawthorne gelesen und nichts von seiner Existenz geahnt – jetzt war ich mit ihm einkaufen gewesen und fand es schön, dass er dabei mit genauso viel Bedacht vorging wie ich, genoss das Essen, das er gekocht hatte, leckte mir über die Lippen und war glücklich.
Dabei wusste ich nichts, absolut gar nichts über diesen Jungen. Ich fragte mich, was Freddie dazu gesagt hätte, dass man sich jemandem in so kurzer Zeit so nah fühlen konnte …
»So, und
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