Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
er in Echo aufgewachsen war und ohne Akzent sprach, lag in seiner Stimme der weiche Singsang seiner Muttersprache.
Ich nickte. »Ja. Ich hab sie im Café liegen sehen. Gibt es irgendwelche neuen Trends?«
Giannis Augen leuchteten auf. »Immer noch Filterkaffee. Ich finde ihn ja auch molto, molto bene , aber Ma würde mir niemals erlauben, welchen auszuschenken, obwohl wir gerade köstliche kenianische Bohnen geröstet haben, die sich perfekt zum Brühen eignen würden. Nein, es darf nur traditioneller Espresso sein. Weil wir italiano sind. Ich hab den Spezialfilter trotzdem bestellt. Du musst unbedingt demnächst nach Ladenschluss vorbeikommen und den Kaffee probieren. Der Filter soll noch diese Woche geliefert werden, wir könnten also …«
»Ich heiße River«, unterbrach River ihn und streckte ihm über den Tisch die Hand hin. »Ich bin neu in der Stadt und wohne bei Violet.«
»Er hat das Gästehaus gemietet«, fügte ich vielleicht ein bisschen zu hastig hinzu.
Gianni ließ sich nicht anmerken, dass Rivers Verhalten ziemlich unhöflich war, und schüttelte ihm die Hand. »Ich bin Gianni.« Es entstand eine kleine Pause, in der River und Gianni mich ansahen. Ich schaute zum Fenster, um mich nicht entscheiden zu müssen, wessen Blick ich erwidern sollte.
Luke sah ebenfalls zum Fenster, tastete sich dabei allerdings prüfend über seinen kastanienbraunen Haaransatz. Als er meinen Blick spürte, ließ er hastig die Hand sinken.»Habt ihr schon das Neueste gehört?«, unterbrach Gianni schließlich das Schweigen.
»Irgendetwas, das in der Zeitung stand?« Sunshine schob sich einen Brocken Pistazien-Eis in den Mund und zog den Löffel anschließend übertrieben langsam wieder heraus. »Ich lese nämlich keine Zeitung, weil ich davon Kopfschmerzen bekomme.«
Ich verpasste ihr unter dem Tisch einen Tritt, aber sie ließ sich nicht beirren.
»In Jerusalem Rock ist etwas total Krasses passiert. Alle reden darüber, weil bei uns neulich doch auch so komische Sachen gelaufen sind. Ich meine die Kinder, die auf dem Friedhof nach dem Teufel gesucht haben. In Jerusalem Rock war es aber noch heftiger.«
»Wo zur Hölle ist Jerusalem Rock?«, fragte Luke.
»Ungefähr zwei Stunden südlich von hier.« Giannis Blick verdüsterte sich. »Vor zwei Tagen haben sich anscheinend ein paar Leute aus dem Ort auf einer Wiese versammelt und eine alte Frau an einen Pfahl gebunden. Sie haben sie beschuldigt, eine Hexe zu sein, und sie mit Steinen beworfen, bis sie ohnmächtig wurde. Und danach haben sie sie angezündet.« Gianni atmete tief durch. »Und wisst ihr, warum sie auf die Idee gekommen sind, dass sie eine Hexe ist? Weil sie rote Haare hatte! Was ist in letzter Zeit bloß mit den Leuten los? Hat irgendjemand das Trinkwasser mit LSD verseucht?«
»Was … was ist mit ihr passiert?«, flüsterte ich, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. »Mit der rothaarigen Frau, meine ich. Wurde sie rechtzeitig gerettet? Geht es ihr gut?«
Gianni sah mich traurig an und schüttelte den Kopf. »Nein, Violet. Sie ist gestorben. Und danach haben sie ein kleines Mädchen an den Pfahl gebunden, das auch rote Haare hatte, und haben sie aufs Übelste beschimpft. Sie wollten anscheinend gerade anfangen, sie zu steinigen, als die Polizei kam. Die Kleine war erst neun. Unheimlich, oder?«
Niemand von uns sagte etwas. River sah Gianni an, der wiederum mich anschaute, während ich meinen entsetzten Blick nicht von River lösen konnte, bis plötzlich meine Hände zu zittern anfingen und mir schlecht wurde.
River. Seine Gabe. Er ist einen Tag lang verschwunden gewesen. War er womöglich in Jerusalem Rock? Er könnte es getan haben. Wer sonst?
»Gianni«, rief Graziella aus der Küche. »In cucina! Subito!«
Gianni schüttelte noch einmal den Kopf und erhob sich dann. »Wenn ihr auf der sicheren Seite sein wollt, besorgt euch lieber einen Vorrat an San Pellegrino und trinkt in nächster Zeit nur noch Wasser aus Italien. Mehr sag ich dazu nicht.«
Er verschwand in der Küche. Sunshine und Luke unterhielten sich aufgeregt miteinander, aber ich bekam gar nicht mit, was sie sagten, weil ich zu erschüttert war. River weigerte sich, mich anzusehen. Er drehte einfach den Kopf weg und schaute aus dem Fenster. Die Stelle, an der mein Bein seines berührte, wurde plötzlich heiß, brennend heiß, und ich rückte ein Stück von ihm ab.
Auf einmal setzte River sich ruckartig auf, als hätte er draußen etwas gesehen. Ich erstarrte
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