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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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hatte. Er saß an einem billigen Holztisch auf einem wackeligen Stuhl, und ich fragte mich, ob es dunkel war, weil er es so mochte oder weil die Stromrechnung nicht bezahlt worden war. Mir war beides vertraut.
    »Eigentlich wollte ich meinen Tod vortäuschen, so wie Huckleberry Finn«, erzählte Jack. »Mit Schweineblut. Ich bin sogar zum Metzger gegangen und wollte welches kaufen. Aber als er angefangen hat, mir zu viele Fragen zu stellen, bin ich wieder abgehauen.«
    Ich sah mich in der trostlosen Küche um. An den Wänden hing eine Tapete mit verblichenem rosafarbenem Blümchenmuster, die sich an manchen Stellen schon abschälte und deren längst verwelkte Zuversicht man förmlich schmecken konnte. Im Spülbecken standen leere Whiskeyflaschen, es stank nach Zigarettenqualm, nach Staub und vergammeltem Müll. Ich dachte an unsere behagliche Küche mit ihrer hohen Decke, den großen Fenstern, dem gelben Sofa und dem guten Essen, mit dem der Kühlschrank ausnahmsweise mal gefüllt war.
    »Willst du weg von hier?«, fragte ich.
    Jack nickte. Er stand auf, ging hinaus und kehrte ein paar Minuten später mit einem gepackten Rucksack zurück. Gemeinsam traten wir aus dem Haus.
    Wir machten einen großen Bogen um den Park und gingen schweigend in Richtung Citizen Kane, während in der Ferne die kreischenden Sirenen eines Rettungswagens durch die Stadt schallten.
    Ich entschied, dass Jack noch früh genug erfahren würde, was mit seinem Vater passiert war. Wahrscheinlich ahnte er es bereits. Immer wieder standen mir Daniel Leaps kreidebleiches Gesicht und sein blutdurchtränktes Hemd vor Augen. Die Bilder trafen mich wie Fausthiebe. Ich wusste nicht viel über Kinder. Erst recht nicht über kluge Kinder, denen nichts entging und die mich mit großen wissenden blauen Augen unter kupferroten Haaren ansahen. Meine Hände zitterten immer noch leicht und mein Herz klopfte hart und unregelmäßig. Ich spürte seine Schläge weiter unten im Bauch, als hätte es sich vor Entsetzen ganz tief in mir verkrochen und fände nun nicht mehr an seinen angestammten Platz zurück.
    Ich ging mit Jack in die Küche, wo er sich auf das gelbe Sofa setzte und zusah, wie ich frischen Ingwer in zwei Gläser mit selbst gemachter Limonade rieb, so wie Freddie es immer gemacht hatte, wenn ich unglücklich war.
    Danach setzte ich mich neben ihn in die verblassende Abendsonne und wir nippten an dem würzig-süßen Getränk und fühlten uns mit jedem Schluck ein bisschen besser. Zumindest ich fühlte mich ein bisschen besser. Ich weiß nicht, ob es am Ingwer lag oder an der Erinnerung an Freddie, aber allmählich fiel die Angst von mir ab. Ob das wirklich so gut war, konnte ich allerdings nicht sagen.
    Anschließend führte ich den kleinen Jungen in eines der Gästezimmer im zweiten Stock. Es war ziemlich verstaubt, aber die Laken waren sauber – oder waren es zumindest gewesen, als das Bett damit bezogen worden war, was hoffentlich noch nicht allzu lange her war. Mit seiner olivgrünen Tapete, den dunklen Vorhängen, dem Perserteppich und dem aus schieferfarbenen Backsteinen gemauerten Kamin strahlte das Zimmer männliche Behaglichkeit aus.
    Jack sah sich um, ohne etwas zu sagen. Aber ich glaube, es gefiel ihm.
    Er stellte seinen Rucksack auf dem Bett ab und lehnte sich dann mit seinem schmalen Körper an den mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Bettpfosten. »Die Rettungswagen waren wegen Pa da, oder?« Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
    »Ja«, sagte ich.
    »Ist er tot?«
    Ich hielt seinem Blick stand. »Ja.«
    Dann ging ich zu der alten Stehlampe neben dem Bett und knipste sie an. Das Licht, das durch den dicken, rauchgrauen Glasschirm fiel, füllte das Gästezimmer mit flauschiger Wärme. Jetzt konnte ich die Sommersprossen auf Jacks Nase und Wangen sehen, und den gefassten Ausdruck in seinen Augen. Ich wischte mit der Hand den Staub vom Nachttisch.
    »War das River?«
    Mein Herz blieb einen Augenblick stehen, bevor es weiterschlug. »Wie meinst du das, Jack?«
    »Hat er das Funkeln benutzt und meinen Pa dazu gebracht, sich umzubringen?«
    Ich schluckte und atmete einmal tief durch. River hat ihm von seiner Gabe erzählt? »Nein. Ja. Ich glaube schon.«
    Jack schwieg eine Weile und starrte in den Kamin, obwohl kein Feuer darin brannte.
    Ich sah zur Decke hinauf. Alle Räume in Citizen Kane hatten hohe Decken, wodurch das Haus noch größer und weitläufiger wirkte. Aber heute Abend hatte ich das Gefühl, dass sie

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