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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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beobachteten.
    »Also, was wollt ihr von meinem Sohn?«, fragte er noch einmal und grinste dann. »Wollt ihr ihn mir abkaufen? So was macht ihr reichen Leute doch gern, oder?« Er sah mich an. »Ich weiß, was du für eine bist, Violet White. Meine Familie lebt fast schon genauso lange in Echo wie deine. Nur dass wir nicht in einer Villa am Meer wohnen. Nein, wir leben und sterben in der Gosse.« Er lachte. Es war ein leises, heiseres Lachen – genauso leise und heiser wie seine Stimme. »Und jetzt sieh dir das an. Kommst aus deiner Villa in meine Gosse herabgestiegen und willst mir meinen Sohn abkaufen. Du möchtest ihn wahrscheinlich mieten, um mit ihm zu spielen, wie in dem Roman von Charles Dickens, stimmt’s? Ich hab das Buch gelesen. Du musst nicht denken, dass ich nicht lesen kann.«
    Er trank einen tiefen Schluck von seinem Bourbon und musterte mich so lange von oben bis unten, bis ich nervös wurde. Meinte er das, was er sagte, etwa ernst?
    »Nein, ich will Ihnen Ihren Sohn nicht abkaufen. Wir wollten nur …«
    Als ich Jack ansah, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass auf seinem Gesicht ein kleines verächtliches Lächeln lag. Er war es gewohnt, dass sein Vater sich zum Idioten machte. Mein Blick wanderte wieder zu Daniel Leap, und ich fragte mich, ob ihm bewusst war, was für einen klugen Sohn er hatte. Und ob er wusste, dass er keine Angst vor ihm hatte.
    Leap stach mit der Nadel wild auf sein Hemd ein und versuchte einen lose hängenden Knopf festzunähen. Aber seine Hände zitterten, und er kam auch nicht auf die Idee, vielleicht sein Bourbon-Glas kurz abzustellen, um sich die Arbeit zu erleichtern. »Ich versuche schon den ganzen Morgen, diesen verdammten Knopf anzunähen«, seufzte er. Offenbar hatte er die Dickens-Geschichte mit dem gemieteten Spielkameraden vorübergehend vergessen.
    »Soll ich Ihren Drink für Sie halten?«, erkundigte sich River höflich.
    Leap reichte River achselzuckend sein Glas, worauf der es an den Mund hob und einen tiefen Schluck nahm. Ich zog erstaunt die Brauen hoch. Warum trank River den billigen Fusel? Hatte er nicht behauptet, so gut wie nie Alkohol zu trinken?
    Jetzt, wo Leap die rechte Hand frei hatte, stach er die Nadel mit etwas mehr Treffsicherheit in den Knopf. Ich zuckte zusammen und rechnete damit, jeden Moment Blut zu sehen. Jack beobachtete seinen Vater eine Zeit lang, dann nahm er ihm die Nadel aus der Hand, führte ihn zu einem Stuhl neben der Tür und drückte ihn sanft auf die Sitzfläche.
    River und ich standen schweigend da, bis Jack sich uns wieder zuwandte und River scharf ansah. River drehte das Glas um und goss den Whiskey aus.
    Sobald wir wieder zu Hause waren, machten wir uns auf die Suche nach Luke. Ich wollte, dass River sich bei ihm entschuldigte, wozu er ihm allerdings erst einmal von seiner Gabe erzählen müsste, und wie es dazu kommen sollte, war mir noch nicht ganz klar.
    Im Vorbeigehen fiel mir auf, dass die Tür zum Schuppen offen stand, der übrigens größer war, als der Name vermuten ließ. In Wirklichkeit handelte es sich eher um ein weißes Häuschen mit mehreren Fenstern, das vollgestopft war mit Farbbehältern, kleinen Hockern, Staffeleien, Pinseln, Leinwänden und Requisiten für Stillleben – Krügen, Gläsern, Weinflaschen, künstlichen Früchten, Kerzen und einem Totenkopf.
    Luke stand an einer Staffelei und malte. Er hatte zwei Leinwände nebeneinander aufgestellt – die eine war weiß, die andere schwarz grundiert.
    »Das wird ein Diptychon«, erklärte er, ohne von dem Kasten mit Farbtuben aufzuschauen, in dem er gerade kramte. »Ein Hauch Impressionismus, gewürzt mit einer Prise viktorianischer Schrulligkeit. Das hier …«, er deutete auf die schwarz grundierte Leinwand, »wird das Bildnis eines Mädchens mit tief liegenden müden Augen, das an einem mondbeschienenen Strand liegt. Sie wird einen altmodischen Badeanzug mit züchtigem Beinausschnitt und Gürtel tragen, so einen, wie du ihn hast.« Er sah kurz zu mir auf. »Im Hintergrund sieht man vielleicht noch irgendeinen Fisch oder einen Wal. So, und jetzt kommt der Clou: Das Mädchen wird ihren eigenen Schatten im Arm halten, als wäre er krank und bräuchte ihre Hilfe. Auf die weiße Leinwand kommt dasselbe Mädchen am selben Strand, wieder mit ihrem Schatten, diesmal aber tagsüber. Das Ganze ist als Metapher gedacht. Ihr wisst schon, so was in der Richtung, dass das Mädchen das Gefühl hat, nur noch ein Schatten zu sein, als würde sie gar nicht

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