Full House: Liebeserklärung an die Chaosfamilie (German Edition)
vergessen, also alles wieder runter und von vorne.
Als ich Clara das dicke Mützchen zum zweiten Mal überstülpe, kommt ein verdächtiger Duft aus dem Höschen oder besser aus dem Windelchen. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob mir wegen des Gestanks oder den vielen »chens« so übel wird.
Eine Sekunde lang überlege ich, ob ich nicht alles so lassen soll und sie nicht wickle (immerhin ist der Inhalt der Windel ja weich und warm), aber die Angst, dass Beate plötzlich vor mir steht und mich einen Rabenvater nennt, ist übermächtig. Also alles wieder runter und neu wickeln. Oder vielleicht doch nicht? Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, schon steht Bea vor mir.
Erstaunlich. Ich glaube, Frauen haben nicht nur den sechsten, sondern auch den siebten, achten und neunten Sinn. Sie fühlen förmlich, wenn man versucht, etwas an ihnen vorbeizumogeln. Schon im Kindesalter hat mich das an meiner Mutter fasziniert, fürs Leben geprägt und mir einen höllischen Respekt eingejagt. Frauen sind der lebende Beweis, warum der Mensch zwei Ohren und Augen hat. Meine Mutter konnte mit ihrer Freundin telefonieren, dabei fernsehen und sich die Nägel lackieren – und bekam trotzdem mit, wenn ich in der Nase popelte und das Ergebnis am Teppich entsorgte. Wohlgemerkt hinter dem Sofa, im Dunklen, sogar in einem anderen Zimmer. Wahrscheinlich hätte sie diese Nummer auch hingekriegt, wenn ich in einer anderen Stadt gewesen wäre! Beate kanndas auch. Sie ist mein drittes Auge, und natürlich hat sie die Situation sofort erkannt oder vermutlich bereits an der Haustür gerochen.
»Das ist ja nun wirklich das Letzte! Unsere arme Tochter! Wie kannst du nur auch nur eine Sekunde zögern, sie neu zu wickeln?«
»Oh, das habe ich nicht. Ich habe sogar noch länger gezögert, hatte Clara bereits im Kinderwagen, als du um die Ecke kamst.«
»Du bist noch gar nicht rausgegangen? Ich dachte, du kommst gerade vom Spazierengehen zurück.«
»Nee, nachdem ich unsere Tochter zweimal an- und wieder ausgezogen hatte, war ich zu erschöpft, um rauszugehen.«
»Na, toll, dann muss ich jetzt wohl los. Manchmal verstehe ich dich nicht. Babys machen nun mal in die Windel.«
»Nein und noch mal NEIN! Babys MACHEN nicht, sie KACKEN in die Windeln. Warum können Pferde nach der Geburt sofort stehen, Katzen sind gleich stubenrein, und sogar kleine Elefanten brauchen keine Windeln?«
Was für ein idiotischer Vergleich, aber ich habe Glück, Beate hat ihn offensichtlich nicht gehört, denke ich. Falsch.
»Warum können das Babys nicht? Da siehst du mal, wie degeneriert unsere Gesellschaft heute ist.«
»Ach ja, und du warst schlauer?«
»Weiß ich nicht, kann mich nicht mehr erinnern. Meine Mutter sagt immer: ›Du warst als Baby schon so schlau wie heute.‹ Abgesehen davon, war es draußen viel zu kalt, und da habe ich mich entschlossen, zu Hause zu bleiben.«
»Ach, auf dem Sofa vor dem Fernseher?«
»Ja, Clara liebt Fernsehen.«
»So ’n Blödsinn. Und warum hast du sie im Kinderwagen ins Nebenzimmer geschoben?«
»Es hat so gestunken. Mir war davon ganz schwindlig.«
Was sage ich, warum rechtfertige ich mich mit überzeugenden, logischen Argumenten? Was dieses Thema und überhaupt alle Themen des Alltags der Zukunft und Vergangenheit betrifft: Frauen ticken anders. Es ist sinnlos, darüber zu streiten. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum so viele Männer mit Herzinfarkt umfallen. Sie diskutieren mit ihren Frauen, und das endet in Verzweiflung oder, wie gesagt, in einer Herzattacke. Nein, Clara braucht ihren Vater, also entschließe ich mich, die sanfte, liebevolle Tour einzuschlagen, denn ich will überleben. Das bin ich meiner Tochter schuldig.
»Schatz, nach einem langen, anstrengenden Shoppingtag wird es dir guttun, ein wenig an die frische Luft zu gehen. Und dann könntest du Clara gleich mitnehmen. Angezogen ist sie ja noch.«
»Angezogen ja, aber nicht gewickelt!«
Das finde ich nun ein bisschen gemein von meiner Frau, um nicht zu sagen unfair. Ich hatte ja tatsächlich in Betracht gezogen, Clara zu wickeln. Was kann ich dafür, dass genau in dem Moment Beate um die Ecke kam? Aber wie gesagt, ich habe mich entschlossen, diplomatisch zu sein, also drehe ich den Fernseher lauter und gehe damit jeder Diskussion aus dem Weg.
Geht nicht! Einer diskussionswütigen Frau geht niemand aus dem Weg. Ich glaube bis heute, dass daraus der Spruch »Steter Tropfen höhlt den Stein« entstanden ist. Kreuzzüge, die im Mittelalter
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