Furchtbar lieb
allein zuhause zurückließ. Sie hielt sie eingesperrt wie ein Kaninchen und hatte mit Tesafilm eine Milchflasche an die Sprossen des Laufställchens geklebt, aus der Jess trinken sollte, wenn sie durstig war.
Bei der Anhörung an jenem Tag hatte ich Jess’ Fall skizziert und darauf gewartet, dass die Mitglieder des ehrenamtlichen Komitees eine Entscheidung darüber träfen, ob sie meine Empfehlung, Jess in Pflege zu geben, annehmen wollten.
Einer aus dem Komitee, ein Arsch mit Haartolle, vermutlich nicht älter als achtundzwanzig, ohne Kinder und ohne einen Schimmer von Kindererziehung, hatte sich sogar noch mehr über mich entrüstet als die Mutter. Während die Mutter dasaß und zuhörte und zugab, dass sie nicht klarkam, fing er an, mich anzugreifen. Er sagte:
1. »Aber die Mutter gibt zu, dass sie Probleme hat.«
2. »Aber die Mutter ist bereit, mit der Sozialarbeiterin zu kooperieren.«
3. »Wie können wir es rechtfertigen, die kleine Jess ihrer Mutter wegzunehmen?«
4. »Wie schwer wird es für sie werden, Jess zurückzubekommen?«
5. »Wo wird Jess hinkommen? Wer wird sich um sie kümmern? Haben Sie Pflegeeltern gefunden?« und
6. »Wir müssen alles tun, was wir können, damit Mütter und ihre Kinder zusammenbleiben.«
Ich war stinksauer. Der Arsch schien sich mehr Sorgen um die Mutter als um das Kind zu machen, und das empörte mich mehr als alles andere.
Ich hatte mich immer zu gefährdeten Kindern hingezogen gefühlt. Und obwohl ich selbst keine Mutter sein wollte, hegte ich feste Überzeugungen über Mutter-Kind-Beziehungen. Meine eigene Mutter, so glaubte ich, hatte ein gutes Vorbild abgegeben, wie man mit Elternschaft umgehen sollte. Sie hatte immer mit vollem Einsatz versucht, mir ihre Freundschaft anzubieten und mir meine Grenzen aufzuzeigen, und sie hatte ihr eigenes Leben weitergelebt, während sie sich gleichzeitig mir widmete, so dass es auf beiden Seiten keinen schwelenden Groll gab. Sarahs Mutter dagegen hatte Sarahs Kindheit voll und ganz vermasselt. Sie war kaum je da gewesen, und wenn doch, dann hatte sie zu viel getrunken. Als Sarah sieben war, hatte sie sich zum zweiten Mal scheiden lassen. Und sie war so selbstbezogen, dass es einem den Atem verschlug. Die Folgen für Sarahs Selbstwertgefühl waren furchtbar. Wie heißt es bei den Jesuiten? »Zeige mir einen Jungen, ehe er sieben ist, und ich zeige dir, was für ein Mann er sein wird.«
Ich war überzeugt, dass ich Kindesvernachlässigung aus einer Meile Entfernung riechen könne, und ich empfand es als meine Pflicht, Kinder davor zu bewahren. Ich hatte wohl zwangsläufig Sozialarbeiterin werden müssen.
Jedenfalls konnte ich mich durchsetzen, und zwei der drei Komiteemitglieder (der Arsch gab nicht nach) stimmten zu, dass das Kind nicht nach Hause zurückkehren solle.
Später, im Foyer, sagte der Arsch mit der Haartolle: »Es ist schwierig, unvoreingenommen zu sein, nicht wahr? Aber wir alle sollten es versuchen.«
»Ja«, antwortete ich und sah ihm erst ins Gesicht und dann hinunter auf seine Hand, die meinen Arm fest umklammert hielt. »Wir alle sollten es versuchen.«
Er ließ los und seufzte, als die Mutter mir einige von Jess’ Sachen für die Pflegeeltern mitgab. Sie weinte nicht einmal.
***
Ich ging von der Anhörung direkt zur Ärztin, und es dauerte nicht lange, bis sie zu dem Schluss kam, dass meine Gewichtszunahme und meine Erschöpfung nicht auf Stress zurückzuführen seien. Ein schneller Urintest räumte alle Zweifel aus. Als ich es Sarah erzählte, befand ich mich in einem Schockzustand.
Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich schwanger war. Ich hatte jeden Monat meine Regel gehabt, aber meine Ärztin hatte mir erklärt, dass das bloß falsche, vorgebliche Blutungen gewesen seien. Verfluchte Lügen! Ich war schon im fünften Monat, und es war zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.
Sarah antwortete auf meine ungeschickte Enthüllung mit Schweigen. Dann legte sie auf. Ich verbrachte einen Tag damit, mich im Kopf mit ihr zu streiten. In schneidend kurzen Repliken sagte ich ihr, wie wenig sie für mich da gewesen sei, als ich sie gebraucht hätte, und dass unter keinen Umständen von mir erwartet werden könne, dass ich mich entschuldigte oder den ersten Schritt tat.
Aber im Grollen bin ich nicht besonders gut, und am nächsten Tag nach dem Mittagessen rief ich sie von der Arbeit aus an und entschuldigte mich.
Sie sagte, es tue ihr auch leid, und dass sie nicht hätte auflegen sollen, aber dass
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