Furor
Narrensache fällt mir erst einmal nix ein. Dieses Wort ›Mellon‹ kommt mir ganz vage bekannt vor. Hast du Robert schon gefragt?«
Robert Müller kannte sich besser mit Computern aus als irgendjemand sonst.
»Nee, gute Idee. Ich melde mich wieder. Sonst sehen wir uns morgen. Tschüs. Und: danke.«
Sebastian überlegte. Er rotierte auf dem Drehstuhl und sah sich im Zimmer um.
Oben auf einem der Regale stand ein menschlicher Schädel. Feine Linien bezeichneten die Teile, die sich abheben ließen, um den Blick ins Innere freizugeben. Das ganze Gehirn darin ließ sich auseinander nehmen. Es war ein Schulungsstück, präpariert aus einem echten Gehirn. Wenn er sich recht erinnerte,handelte es sich um das Gehirn eines verstorbenen Bekannten seines Vaters. Irgendwie morbide, dachte Sebastian. Das Gehirn seines Vaters wollte jedenfalls bestimmt niemand mehr präparieren. Bei dem Gedanken wurde ihm wieder bewusst, was mit seinem Vater passiert war. Erneut brach ihm der Schweiß aus.
Neben dem Waschbecken standen eine Kaffeemaschine, eine Büchse mit Kaffee und eine Packung Filter. Sebastian füllte Wasser und Kaffeepulver in die Maschine und schaltete sie ein. Sein Kopf war leer, und irgendwo ganz tief hinten pochte eine Ader im Rhythmus seines Herzens. Er spürte, wie der Kopfschmerz sich langsam ausbreitete. Ob sein Vater hier Tabletten hatte? Er suchte die Regale ab, in denen sich Fachliteratur der letzten Jahrhunderte befand. In einer Abteilung standen vergilbte Ausgaben von Aristoteles’ Werk ›Über das Gedächtnis‹, daneben Werke von Augustinus, Epikur und Hippokrates sowie die beiden Bände ›L’homme machine‹ und ›Les animaux plus que machines‹ von de La Mettrie aus den Jahren 1747 und 1750. Originalausgaben. In anderen Regalen fand Sebastian die Standardwerke der Allgemeinen und Speziellen Neurophysiologie in den neuesten Ausgaben. Und jede Lücke war mit Zeitschriften vollgestopft. Von Tabletten keine Spur. Ein angenehmer Kaffeeduft erfüllte den Raum. Im Schreibtisch, dachte Sebastian. Garantiert hatte er die Tabletten im Schreibtisch.
Er zog die oberste Schublade auf und entdeckte einen Schlüssel mit Anhänger, den er an sich nahm. Dann erstarrte er. Vor ihm in der Schublade lag eine Pistole, eingehüllt in ein Öltuch. Eine von diesen Dingern, bei denen das Magazin in den Griff geschoben wurde. Verwirrt und erschrocken nahm er die schwarze, kompakt wirkende Waffe mitsamt dem Tuch vorsichtig heraus und legte sie auf den Tisch. In der Schublade war außerdem ein Kästchen mit Munition.
Was zum Teufel wollte sein Vater damit?
Sebastian nahm die Pistole vorsichtig in die Hand. Sie war vielleicht zwanzig Zentimeter lang und wog sicher weniger als ein Kilo. Er legte den Zeigefinger um den Abzug. Es kribbelte in seinem Finger und in seinem Bauch. Die Waffe lag angenehm in der Hand, die Griffschalen ließen sich bequem umfassen. Er hob die Pistole mit ausgestrecktem Arm bis auf Augenhöhe und brachte Visier und Korn vor seinem rechten Auge übereinander. Über den Lauf hinweg sah er ins Fenster eines gegenüberliegenden Hochhauses.
»Peng«, sagte er. Dann ließ er den Arm wieder sinken. Mit einem Mal war ihm klar, welche Faszination von so einem Ding ausgehen konnte. Auf der Innenseite seiner Oberschenkel spürte er eine Kälte, die sich bis in den Unterleib zog. Das verwirrte ihn. Er legte die Pistole in das Tuch zurück. Dann starrte er sie an und wurde sich seiner Umgebung langsam wieder bewusst. Ziemlich gefährlich, dachte er, ohne selbst zu wissen, was er damit meinte. Was um Himmels willen hatte sein Vater mit dieser Pistole gewollt?
Sebastian nahm einen Schluck Kaffee, während sein Blick auf eine Schublade unter der Kaffeemaschine fiel. Natürlich! Er öffnete das Fach und holte die Kopfschmerztabletten heraus. Hätte er sich denken können. Koffein und Aspirin – sein Vater hatte darauf geschworen. Sebastian spülte eine der Tabletten mit dem Kaffee hinunter.
Was sollte er mit dieser Pistole machen? Seinen Fund melden? Überhaupt seltsam, dass die Polizisten das Ding nicht mitgenommen hatten. Sie mussten es bei der Durchsuchung doch gesehen haben. Er würde die Pistole behalten. Irgendwie ein gutes Gefühl, eine Waffe zu haben, dachte er. Dann wäre er jederzeit in der Lage, sich zu verteidigen. Spinnst du jetzt, Sebastian Raabe, dachte er. Gegen wen willst du dich bitte schön verteidigen? Irgendwie hatte ihn das alles wohl ganzschön durcheinander gebracht. Andererseits: Man
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