FutureMatic
PAPPKARTONSTADT
urch die abendliche Flut unbeachteter, unbekannter DG esichter, inmitten dahinhastender schwarzer Schuhe und zusammengerollter Regenschirme, die Menschenmenge ein einziger Organismus, der sich ins stickige Innerste der Station hinabwälzt, kommt Shinya Yamasaki, das Notebook unterm Arm, als wäre es die Eiertasche eines genügsamen, aber halbwegs lebenstüchtigen Meeresgeschöpfs.
Von der Evolution befähigt, mit rempelnden Ellbogen, überdi-mensionalen Ginza-Einkaufstüten und erbarmungslosen Akten-koffern fertig zu werden, steigt Yamasaki mit seiner kleinen In-formationsfracht in die Neontiefen. Hinab zu einem gefliesten Nebengang von relativer Stille, der parallele Rolltreppen verbindet.
Mittelsäulen in grüner Keramikverkleidung stützen eine von staubbepelzten Ventilatoren, Rauchmeldern und Lautsprechern zernarbte Decke. Jenseits der Säulen drückt sich eine regellose Kolonne ramponierter Pappkartons an die Wand, improvisierte Unterkünfte, errichtet von den Obdachlosen der Stadt. Yamasaki bleibt stehen, und im selben Moment überschwemmt das ozeani-sche Getrappel hin und her eilender Füße seine Sinne, nicht mehr im Zaum gehalten von dem Bewusstsein, dass er einen Auftrag zu erfüllen hat, und er wünscht sich aufrichtig und sehn-lichst, woanders zu sein.
Er zuckt heftig zusammen, als eine schick gekleidete junge Matrone mit Chanel-Mikropore vor dem Gesicht ihm mit einem teuren dreirädrigen Kinderwagen über die Füße fährt. Yamasaki 7
stößt eine krampfhafte Entschuldigung hervor, und während die Mutter entschlossen davonstapft, erhascht er durch elastische Vorhänge aus einem pink getönten Kunststoff einen Blick auf den winzigen Passagier und den flackernden Schein eines Bildschirms.
Yamasaki seufzt unhörbar und hinkt zu den Behausungen aus Pappe. Er fragt sich kurz, was die vorbeiströmenden Pendler wohl denken werden, wenn sie sehen, wie er in den fünften Karton von links kriecht. Der reicht ihm kaum bis zur Brust, ist länger als die anderen und hat vage Ähnlichkeit mit einem Sarg. Eine Klappe aus weißer, von Daumenabdrücken verschmutzter Wellpappe dient als Tür.
Vielleicht sehen sie ihn ja gar nicht, denkt er. Schließlich hat er selbst auch nie jemanden in diese sauberen Behausungen hinein-gehen oder herauskommen sehen. Es ist, als würden ihre Bewohner bei der Transaktion, der sich die Existenz solcher Strukturen im Bereich des Bahnhofs verdankt, unsichtbar werden. Als Student der existenziellen Soziologie hat er sich insbesondere mit solchen Transaktionen befasst.
Und jetzt zögert er, kämpft gegen den Drang an, die Schuhe auszuziehen und sie neben das ziemlich schmierige Paar gelber Plastiksandalen auf dem sorgsam gefalteten Bogen Parco-Geschenkpapier neben der Eingangsklappe zu stellen. Nein, denkt er, während er vor seinem geistigen Auge sieht, wie er drinnen überfallen wird, wie er in einem Papplabyrinth mit ge-sichtslosen Feinden ringt. Lieber die Schuhe anbehalten.
Mit einem erneuten Seufzer kniet er sich hin und nimmt das Notebook in beide Hände. Während er einen Moment lang auf den Knien verharrt, hört er die eiligen Schritte der Passanten hinter sich. Dann stellt er das Notebook auf die Keramikfliesen, schiebt es nach vorn, unter der Klappe aus Wellpappe durch, und folgt ihm auf Händen und Knien.
Er hofft inständig, dass er den richtigen Karton gefunden hat.
Er erstarrt in dem unerwarteten Licht, der unerwarteten W ärme.
8
Eine einzelne Halogenlampe flutet den winzigen Raum mit der Frequenz von Wüstensonnenlicht. Da es keine Lüftung gibt, heizt sie den Raum auf wie einen Reptilienkäfig.
»Komm rein«, sagt der alte Mann auf Japanisch. »Lass deinen Arsch nicht so raus hängen.« Er ist nackt bis auf eine Art Lenden-schurz, etwas Rotes, Gewickeltes, das einmal ein T-Shirt gewesen sein mag. Er hockt im Schneidersitz auf einer zerschlissenen Tatami voller Farbflecken. In der einen Hand hält er eine bunt bemalte Spielzeugfigur, in der anderen einen dünnen Pinsel. Yamasaki sieht, dass das Ding eine Art Modell ist, ein Roboter oder ein militärisches Exoskelett. Es glitzert im sonnengrellen Licht, blau, rot und silbern. Kleine Werkzeuge liegen auf der Tatami verstreut: ein Rasiermesser, ein Eingussschneider, Schmirgelpapierkringel.
Der alte Mann ist sehr dünn und glatt rasiert, brauchte aber dringend einen Haarschnitt. Graue Strähnen hängen ihm links und rechts ums Gesicht, und sein verkniffener Mund verleiht ihm eine Miene permanenter
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