Gabriel Lambert
alte Haushälterin öff nete mir sogleich.
Der Pfarrer war, wie ich es mir gedacht hatte, allein in einem kleinen, abgelegenen Zimmer, wo er beim Schein der Lampe sein Brevier las.
Ich folgte der alten Katherine, die mir die Tür öff nete und mich meldete.
Der Pfarrer hob den Kopf. Sein schönes, ruhiges Antlitz befand sich nun ganz im Licht, und ich begriff : Wenn es in der Welt einen Trost für gewisse unwiderrufl iche Unglücksfälle gibt, so ist es der, sein Unglück solchen Menschen zu bekennen.
Ich blieb indessen an der Tür stehen und wagte nicht, weiter ins Zimmer hineinzutreten.
›Es ist gut, Katherine‹, sagte der Pfarrer, ›lassen Sie uns allein, und wenn jemand kommt und nach mir fragt …‹
›… werde ich sagen, der Herr Pfarrer sei nicht zu Hause‹, erwiderte die alte Haushälterin.
›Nein‹, sprach der Pfarrer, ›man darf nicht lügen, meine gute Katherine; Sie sagen, ich sei im Gebet begriff en.‹
›Gut, Herr Pfarrer‹, erwiderte Katherine.
Und sie ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.
Ich blieb unbeweglich stehen, ohne ein Wort zu reden.
Der Pfarrer suchte mich mit den Augen in der Dunkelheit, die außerhalb des engen Lichtscheins der Lampe herrschte; er streckte mir dann die Hand entgegen und sagte zu mir: ›Komm, meine Tochter … ich erwartete dich …‹
Ich tat zwei Schritte, nahm seine Hand und fi el vor ihm auf die Knie.
›Sie erwarteten mich, mein Vater?‹ erwiderte ich. ›Sie wissen also, was mich zu Ihnen führt?‹
›Ich vermute es‹, antwortete der würdige Priester.
›Oh, mein Vater, ich habe mich sehr strafbar gemacht!‹ rief ich, in Schluchzen ausbrechend.
›Sag unglücklich, mein armes Kind.‹
›Aber, mein Vater, vielleicht wissen Sie nicht alles, denn wie hätten Sie erraten können …‹
›Höre, meine Tochter, ich will es dir sagen‹, entgegnete der Priester.
›Ich erspare dir damit ein Geständnis, das dir mir gegenüber peinlich wäre, nicht wahr?‹
›Oh, ich fühle nun, daß ich Ihnen alles mitteilen kann; sind Sie nicht der Diener Gottes, der alles weiß?‹
›Sprich mein Kind‹, sagte der Priester. ›Sprich, ich höre dich.‹
›Mein Vater‹, rief ich, ›mein Vater …‹
Und die Stimme stockte, ich hatte mir zuviel zugemutet und konnte nun nicht mehr.
›Ich vermute alles schon seit dem Tag der Abreise Gabriels‹, sagte der Priester. ›An diesem Tag, mein armes Kind, habe ich dich gesehen, ohne daß du mich sahst. Ich war in der Nacht gerufen worden, um die Beichte eines Sterbenden zu empfangen, und begegnete, als ich morgens um vier Uhr zurückkam, Gabriel, von dem jeder glaubte, er wäre am Abend zuvor abgereist. Als er mich erblickte, versteckte er sich hinter einer Hecke, und ich stellte mich, als sähe ich ihn nicht; hundert Schritt weiter fand ich ein junges Mädchen, das, den Kopf in den Händen, an einem Grabenrand saß; ich erkannte dich, doch du schautest nicht empor.‹
›Ich hörte Sie nicht, mein Vater‹, erwiderte ich. ›Denn ich war ganz in den Schmerz über die Trennung von Gabriel versunken!‹
›Ich ging also vorüber. Obwohl ich zunächst stehenbleiben wollte, um mit dir zu sprechen, hielt mich doch der Gedanke zurück, du könntest dich, genau wie Gabriel, verbergen wollen; ich ging also meines Wegs. Als ich dann die off ene Tür eures Hauses sah, begriff ich alles: Gabriel hatte die Nacht bei dir zugebracht.‹
›Ja, mein Vater, so ist es.‹
›Als du dann nicht mehr in das Pfarrhaus kamst, wie du es früher getan, sagte ich zu mir: Die Arme, sie kommt nicht, weil sie in mir den Richter zu fi nden fürchtet.‹
Mein Schluchzen verdoppelte sich.
›Nun wohl!‹ sagte der Pfarrer. ›Was kann ich für dich tun? Sprich, mein Kind.‹
›Mein Vater‹, sagte ich, ›ich möchte wissen, ob Gabriel wirklich abgereist ist oder ob er sich noch in Paris befi ndet.‹
›Wie, du zweifelst?‹
›Mein Vater, es ist mir ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf gegangen: der Gedanke, Gabriel habe, nur um sich meiner zu ent-ledigen, vorgegeben, er reise ab.‹
›Und wie bist du auf diesen Gedanken gekommen?‹ fragte der Priester.
›Einmal sein Stillschweigen: so überstürzt die Abreise auch hätte sein können: soviel Zeit, mir wenigstens ein Wort zu schreiben, wäre immer gewesen. Und wenn nicht von Paris, so von dem Ort, wo er sich einschiff te oder wo er angekommen wäre. Hätte er mir nicht Nachricht geben müssen? Weiß er nicht, daß ein Brief von ihm mein Leben und
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