Gabriel Lambert
kommt? –
Ich habe schon immer gesagt, das Glück dieses Burschen liege in seinen Fingerspitzen.‹
›Mein Herr‹, erwiderte ich, ›Sie täuschen sich in mir; ich werde dem Himmel stets für jedes Glück danken, das Gabriel widerfährt; ich befürchte nur, er wird mich in seinem Glück vergessen.‹
›Das könnte schon sein, meine arme Marie‹, entgegnete der Bürgermeister, ›ich möchte nicht dafür einstehen, und wenn ich dir raten soll, sage ich dir: Komm Gabriel zuvor, sobald sich dir eine Gelegenheit bietet. Du bist ein fl eißiges, ordentliches Mädchen, an dem ich nie etwas zu tadeln gehabt habe, trotz deines Verhältnisses mit Gabriel. Nun wohl! Ich würde den ersten hübschen Jungen, der sich zeigt, nehmen und gegen Gabriel tauschen; und höre, André Morin, der Fischer, sprach mit mir erst gestern davon.‹
Ich unterbrach ihn und sagte: ›Herr Bürgermeister, ich werde entweder Gabriels Frau, oder ich bleibe ledig; wir haben uns Treue gelobt, die er vergessen kann, die ich aber nie vergessen werde.‹
›Ja, ja‹, erwiderte er, ›ich kenne das; so richten sich alle die armen, unglücklichen Mädchen zugrunde; mach es, wie du willst, mein Kind, ich habe keine Gewalt über dich, doch wenn ich dein Vater wäre, wüßte ich, was ich tun würde.‹
Ich erkundigte mich schließlich noch nach dem, was ich wissen wollte, und kehrte wieder nach Hause zurück. Ich konnte mir leicht ausrechnen: Gabriel hatte an seinen Vater geschrieben, nachdem er meinen Brief erhalten.
Ich wartete vergebens den nächsten Tag, den zweiten Tag, die ganze Woche, den ganzen Monat: Ich erhielt keine Nachricht von Gabriel.
Eine Hoff nung hatte mich aufrechterhalten; da er keine Zeit gehabt, mir von Paris aus zu schreiben, würde er mir wohl von dem Hafen aus schreiben, wo er sich einschiff te, oder wenn er nicht von diesem Hafen aus schreiben konnte, würde er mir wenigstens von Guadeloupe schreiben.
Ich verschaff te mir eine Karte und fragte einen unserer Matrosen, der mehrere Reisen nach Amerika gemacht hatte, welche Route die Schiff e fahren, wenn sie nach Guadeloupe wollen. Er zog mir mit dem Bleistift eine lange Linie, und ich hatte wenigstens den Trost zu sehen, welchen Weg Gabriel verfolgte.
Bevor ich auf Nachricht von ihm hoff en dürfte, würden mindestens drei Monate vergehen. Ich erwartete mit ziemlich viel Ruhe den Ablauf dieser drei Monate, doch es kam nichts, und ich blieb in dem furchtbaren Halbdunkel, das man Zweifel nennt und das noch viel schlimmer ist als die Nacht.
Die Zeit verging indessen; alle Empfi ndungen, die das Dasein und Wachsen eines Wesens ankündigen, regten sich in mir. Es sind gewiß köstliche Empfi ndungen, wenn das Kind in eine Familie hin-einwächst, aber schmerzliche, bittere und gräßliche Empfi ndungen, wenn jede Bewegung an den Fehltritt und das Unglück erinnert.
Ich war seit sechs Monaten in anderen Umständen, bis dahin hatte ich meine Schwangerschaft glücklich vor aller Augen verborgen; doch ein furchtbarer Gedanke verfolgte mich: der Gedanke, daß ich, wenn ich fortführe, mich so zusammenzuschnüren, das Leben meines Kindes gefährden könnte.
Ostern stand kurz bevor. Das ist bekanntlich in unseren Dörfern die Zeit der großen Beichte. Auf ein Mädchen, das Ostern nicht wie die anderen feierte, würden alle ihre Kameradinnen mit dem Finger deuten.
Ich war im Grunde meines Herzens zu religiös, als daß ich hät-te zum Beichtstuhl gehen können, ohne meinen Fehltritt ganz zu enthüllen; seltsamerweise aber sah ich die Zeit dieser Enthüllung mit einer gewissen Freude nahen, in die sich jedoch auch Furcht mischte.
Unser Geistlicher war ein frommer Greis mit weißem Haar und ruhigem, lächelndem Antlitz, bei dessen Anblick der Schwache, der Unglückliche oder der Schuldige fühlt, Unterstützung zu fi nden.
Ich war also fest entschlossen, ihm alles zu sagen und mich von seinen Ratschlägen leiten zu lassen.
Am Vorabend des Tages, an dem alle jungen Mädchen zur Beichte zu gehen pfl egen, begab ich mich zu ihm.
Ich gestehe, mein Herz krampfte sich zusammen, als ich die Hand nach der Klingel des Pfarrhauses ausstreckte. Ich hatte die Nacht abgewartet, damit mich niemand dort eintreten sah, wohin ich in anderen Zeiten ganz off en zwei- oder dreimal wöchentlich kam; auf der Schwelle verließ mich der Mut, und ich war genötigt, mich an die Mauer zu lehnen, um nicht zu fallen.
Doch ich raff te meine Kräfte zusammen und läutete mit einer ungestümen Bewegung.
Die
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