Gabriel
war eher frustriert und wütend als verlegen. Dass es diesmal so weit kommen würde, hatte er wirklich nicht beabsichtigt. Zugegeben, früher war er durchaus stolz gewesen, wenn es dazu kam. Jetzt hingegen war es für ihn nur mehr eine ermüdende Prozedur, sinnlos und manchmal sogar schmerzhaft.
»Leider bist du zu weit gegangen, Black.« Stuart beugte sich über den Tisch und sprach leise, mit starkem Akzent, wie es normal war für jemanden, der sein ganzes Leben auf den Inseln verbracht hatte. »Nun hat Dougal dich aber am Wickel. Was los sein wird, falls die blöden Nüsse nicht gleichzeitig hochgehen, will ich mir gar nicht vorstellen.«
»Werden sie nicht, Stuart«, erwiderte Gabriel genauso leise. »Tun sie nie.«
Stuart Burns war über siebzig, ein harter Muskelprotz. Etwas anderes als Fischen hatte er nie getan, und das war auf den Äußeren Hebriden kein einfacher Job. Entweder brachte es einen Mann um, oder es machte ihn stärker. Für Stuart galt beides. Deshalb war Gabriel ihm begegnet. Bei einem Bootsunfall hatte er ihn aus der eisigen See gezogen. Damals war Stuart noch sehr jung gewesen. In jenen Wellen war seine weichere Seite gestorben und ein hartgesottener, strenger Charakter übrig geblieben. Aber er hatte sich stets als guter, verlässlicher Freund erwiesen – der einzige Mensch, der Gabriels Geheimnis kannte. In ganz Schottland wusste nur er, dass Gabriel Black nicht, wie alle anderen glaubten, Duncan Blacks Sohn war, sondern Duncan Black selbst. Weil jedes männliche Mitglied dieser Familie ein und derselbe war. Ja, im Grunde gab es weder Duncan Black noch Gabriel Black – sondern nur Gabriel, den mächtigen Erzengel, den Boten, einen der vier berühmten erhabenen Erzengel.
Im Lauf der Jahrhunderte hatte er viel Zeit in Schottland verbracht. Manche Epochen waren angenehm gewesen, andere weniger. Europa hatte die Inquisition, die Pest und zahllose Kriege durchlitten, der Teppich der schottischen Geschichte war aus Dornenfäden gewebt, und trotzdem liebte Gabriel sein schönes Kaledonien.
Da er nicht alterte, durfte er an keinem Ort je zu lange bleiben. Sonst hätten sich die Leute gefragt, warum ein Fünfzig- oder Sechzigjähriger immer noch wie ein Dreißigjähriger aussah. Bevor es dazu kam, zog er also jeweils anderswohin. Zwanzig oder dreißig Jahre später kehrte er dann nach Schottland zurück und gab sich als Sohn des Mannes aus, der er früher gewesen war.
Seine Erklärungen blieben stets die gleichen. Sein ›Vater‹ war mit einer Frau aus einem anderen Dorf durchgebrannt und er, Gabriel, das Resultat dieser Beziehung. So machte er es immer wieder, denn nichts konnte ihn allzu lange von Schottland fernhalten.
Diesmal hatte er der Rückkehr besonders ungeduldig entgegengefiebert. Denn neuerdings war das Leben in dem Herrenhaus in den Vereinigten Staaten, das er mit seinen drei Brüdern teilte, einfach zu unwirklich geworden. Vor Kurzem hatte Uriel seinen Sternenengel gefunden und mit ihr jenes wahre Glück, das die anderen Erzengel schon so lange ersehnten. Gut zweitausend Jahre lang hatte der einstige Racheengel den weiblichen Engel gesucht, der eigens für ihn vom Alten Mann erschaffen wurde. Und vor einigen Monaten war er der Frau endlich begegnet. Er war der erste der vier Brüder, der dieses Ziel erreicht hatte.
Doch nicht nur von den Erzengeln wurden die Sternenengel geschätzt, sondern auch von den Adarianern, einer älteren, furchterregenden und mächtigen Erzengelrasse. Wegen der ungewöhnlichen Heilkunst der Sternenengel wollten die Adarianer sie in ihre Gewalt bringen. Zur gleichen Zeit wie Uriel hatte auch der Anführer der Adarianer die schöne Eleanore aufgespürt. Nach einigen physischen und mentalen Kämpfen hatten die vier Erzengel mehr oder weniger gesiegt. Nun lebten Uriel und Eleanore glücklich verheiratet in den USA.
Gabriel freute sich für seinen Bruder. Und die Gewissheit, dass diese Zweisamkeit möglich war und die Sternenengel tatsächlich existierten, erfüllte ihn mit neuer Hoffnung, nachdem er seine eigene jahrhundertelange Suche nach seiner Seelengefährtin schon fast aufgegeben hatte.
Andererseits war es schwierig, Uriel und Eleanore vereint zu sehen, ohne sich zu fragen, ob er noch eine Woche würde warten müssen, bis sein Sternenengel endlich auftauchte, oder weitere zweitausend Jahre. Ob sich seine Brüder Michael, der Krieger, und Azrael, der Todesengel, das auch fragten?
Den Gedanken an lange Jahrhunderte in öder Einsamkeit ertrug er
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