Gai-Jin
»Ich mag nicht mehr ernst sein, ich habe genug von Kami und Tod. Den Tod werden wir früh genug kennenlernen. Der Sensei schenkte uns das Leben für sonno-joi. Vom Nichts ins Nichts – aber heute haben wir noch eine Nacht vor uns, die wir genießen können. Ein Bad, Saké, etwas zu essen, dann eine echte Dame der Nacht, köstlich und süß duftend und feucht…« Er lachte leise. »Eine Blume, keine Orchidee, mit einer wunderschönen Nase und richtigen Augen. Laß uns…«
Er hielt inne. Östlich, aus Richtung Yokohama, kam der widerhallende Knall einer Schiffs-Signalkanone. Dann wurde die Dunkelheit kurz von einer Signalrakete durchbrochen.
»Ist das normal?«
»Keine Ahnung.« Schon konnten sie vor sich die Lampen an der ersten Sperre erkennen. »Wir sollten besser durch das Reisfeld gehen, so können wir die Wachtposten umgehen.«
»Ja. Am besten überqueren wir hier die Straße und halten uns dichter an der Küste. Von der Seite her werden sie keine Eindringlinge erwarten, wir können den Patrouillen aus dem Weg gehen, und die Herberge ist so auch näher.«
Tief gebückt huschten sie über die Straße bis zu einem der Pfade, der durch die kürzlich mit Winterreis bepflanzten Felder führte. Plötzlich blieben beide stehen. Von der Tokaidō her drangen das Klappern von Pferdehufen und das Klirren von Zaumzeug herüber. Sie duckten sich, warteten einen Moment, dann hielten sie den Atem an. Zehn uniformierte, mit Karabinern bewaffnete Dragoner, angeführt von einem Offizier, kamen um die Biegung galoppiert.
Sofort wurden die Soldaten von den Samurai an der Straßensperre entdeckt, die einen Warnruf ausstießen. Weitere Samurai kamen aus den Hütten gelaufen. Bald waren zwanzig von ihnen, mit einem Offizier an der Spitze, hinter der Sperre aufgereiht.
»Was sollen wir tun, Ori?« erkundigte sich Shorin flüsternd.
»Warten.«
Während sie den Vorgesetzten der Samurai beobachteten, hob der die Hand. »Halt!« rief er laut; dann nickte er leicht, statt sich zu verneigen, denn so entsprach es der Etikette vom höheren zum niederen Rang. »Haben Sie eine Genehmigung für Ihre Nachtreise? Wenn ja, zeigen Sie mir Ihre Papiere.«
Heiße Wut stieg in Ori auf, als er die Unverschämtheit des Gai-Jin-Offiziers beobachtete, der etwa zehn Schritte von der Sperre entfernt haltmachte, in seiner fremden Sprache etwas rief und dem Samurai – ohne abzusitzen oder sich, wie es der Brauch erforderte, höflich zu verneigen – mit einer anmaßenden Handbewegung bedeutete, sie zu öffnen.
»Wie können Sie es wagen, so unhöflich zu sein! Verschwinden Sie!« verlangte der Samurai zornig und winkte sie davon.
Der Gai-Jin-Offizier rief einen Befehl. Sofort nahmen seine Männer die Karabiner von der Schulter, richteten sie auf die Samurai und schossen diszipliniert hoch in die Luft. Dann luden sie nach und zielten, noch ehe der Knall der ersten Salve verklungen war, diesmal direkt auf die Wachtposten, während sich eine unheildrohende Stille ausbreitete.
Shorin und Ori hielten den Atem an, denn bisher waren Gewehre mit Pulver und Blei von vorn geladen worden. »Das sind Hinterlader mit den neuen Patronen«, flüsterte Shorin aufgeregt. Keiner von beiden hatte je diese neueste Erfindung gesehen, nur gehört hatten sie davon. Die Samurai waren genauso erschrocken. »Eeee, hast du gesehen, wie schnell sie nachgeladen haben? Ich habe gehört, daß ein Soldat mühelos zehn Schüsse gegen einen aus einem Vorderlader abgeben kann.«
»Aber hast du ihre Disziplin gesehen, Shorin, und die der Pferde, die haben sich kaum gerührt!«
Wieder verlangte der Gai-Jin-Offizier hochfahrend, daß die Samurai die Sperre öffneten, und ließ keinen Zweifel daran, daß alle Samurai sterben müßten, wenn sie nicht auf der Stelle gehorchten.
»Laßt sie durch«, sagte der kommandierende Samurai.
Der Dragoneroffizier gab seinem Pferd verächtlich und ohne jedes Anzeichen von Angst die Sporen, seine Soldaten folgten ihm mit schußbereiten Gewehren und grimmigen Gesichtern. Keiner von ihnen beachtete die Wachen oder erwiderte ihre höflichen Verneigungen.
»Dies wird sofort gemeldet. Eine Entschuldigung wird verlangt werden!« erklärte der Samurai, wütend über das beleidigende Verhalten, aber darauf bedacht, es nicht zu zeigen.
Als sich hinter den Soldaten die Sperre wieder schloß, flüsterte Ori wütend: »Was für ein unmögliches Benehmen! Doch gegen diese Gewehre – was hätte er tun sollen?«
»Er hätte angreifen und sie töten
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