Gai-Jin
Anker liegenden Schiffen die Öllampen sehen. Ein schöner Mond, halb voll, stieg dicht über dem Horizont empor.
»Was macht dein Arm, Ori?«
»Der ist in Ordnung, Shorin. Wir sind jetzt über ein ri von Hodogaya entfernt.«
»Ja, aber sicher werde ich mich erst fühlen, wenn wir in der Herberge sind.« Shorin begann seinen Hals zu massieren, um den Schmerz, den er dort verspürte, wie auch die Kopfschmerzen zu lindern. Katsumatas Schlag hatte ihn fast gelähmt. »Als wir vor Herrn Sanjiro knieten, dachte ich, es wäre aus mit uns. Ich dachte, er würde uns verurteilen.«
»Ich auch.« Während er sprach, fühlte sich Ori elend, sein Arm pochte, sein Gesicht glühte noch immer. Mit seiner gesunden Hand wehrte er zerstreut einen Schwarm Nachtinsekten ab. »Wenn er… Ich hätte nach meinem Schwert gegriffen und ihn uns vorausgeschickt.«
»Ich ebenfalls, aber der Sensei hat uns genau beobachtet und hätte uns beide getötet, bevor wir auch nur eine Bewegung gemacht hätten.«
»Ja, du hast schon wieder recht.« Der Jüngere erschauerte. »Mit seinem Hieb hat er mir fast den Kopf abgeschlagen. Eeee, eine so große Kraft, unglaublich! Ich bin froh, daß er auf unserer Seite ist, nicht gegen uns. Er hat uns gerettet, er allein, er hat Herrn Sanjiro seinem Willen unterworfen.« Plötzlich wurde Ori ernst. »Während ich wartete, Shorin, habe ich… um stark zu bleiben, habe ich ein Todesgedicht für mich verfaßt.«
Shorin wurde ebenfalls ernst. »Darf ich es hören?«
»Ja.«
Sonno-joi bei Sonnenuntergang,
Nichts verschwendet.
Ich springe
Ins Nichts.
Shorin dachte über das Gedicht nach, prüfte es, die Ausgewogenheit der Worte, die dritte Ebene der Bedeutung. Dann antwortete er feierlich: »Ein Samurai tut klug daran, ein Todesgedicht zu verfassen. Mir ist das bisher noch nicht gelungen, aber ich sollte es tun, dann ist der Rest des Lebens ein Geschenk.« Er drehte den Kopf extrem von einer Seite zur anderen, bis die Gelenke knackten, dann fühlte er sich wohler. »Weißt du, Ori, der Sensei hatte recht. Wir haben gezögert, deswegen haben wir verloren.«
»Ich habe gezögert, darin hatte er recht. Ich hätte das junge Mädchen leicht töten können, aber sie hat mich einen Moment gelähmt. Ich habe noch nie… ihre fremdartigen Kleider, ihr Gesicht wie eine seltsame Blüte mit dieser riesigen Nase, eher wie eine monströse Orchidee mit zwei großen, blauen Flecken und gekrönt von gelben Staubgefäßen – diese unglaublichen Augen, die Augen einer Siamkatze, und ein Strohbüschel unter diesem albernen Hut, so abstoßend, und doch so… so anziehend.« Ori stieß ein nervöses Lachen aus. »Ich war wie verhext. Sie ist bestimmt eine Kami aus den dunklen Regionen.«
»Reiß ihr die Kleider runter, und sie wird real sein, aber wie anziehend, ich… ich weiß es nicht.«
»Daran habe ich auch gedacht und mich gefragt, wie das wohl wäre.« Einen Moment sah Ori zum Mond empor. »Wenn ich mit ihr das Kopfkissen teilen würde, ich glaube… ich glaube, ich würde das Spinnenmännchen zu ihrem Spinnenweibchen sein.«
»Du meinst, sie würde dich hinterher töten?«
»Ja, wenn ich das Kopfkissen mit ihr teilte, mit oder ohne Gewalt, würde diese Frau mich töten.« Ori fuhr mit der Hand durch die Luft, denn die Insekten wurden zur Plage. »So eine wie sie hab ich noch nie gesehen – und du auch nicht. Das hast du doch sicher auch gemerkt, neh?«
»Nein, alles ist so schnell gegangen, und ich hab versucht, den großen, häßlichen Mann mit der Pistole zu töten, und dann ist sie geflohen.«
Ori starrte auf die matten Lichter von Yokohama. »Ich möchte wissen, wie sie heißt und was sie getan hat, als sie dorthin zurückgekehrt ist. Ich habe noch nie so etwas gesehen… sie war so häßlich, und dennoch…«
Shorin war beunruhigt. Normalerweise nahm Ori kaum jemals Notiz von Frauen, benutzte sie einfach, wenn er das Bedürfnis verspürte, und ließ sich von ihnen unterhalten, bedienen. Von seiner vergötterten Schwester abgesehen, konnte er sich nicht erinnern, Ori jemals über eine Frau sprechen gehört zu haben. »Karma.«
»Ja, Karma.« Ori zupfte seinen Verband zurecht; das Pochen verstärkte sich. Blut sickerte hindurch. »Trotzdem, ich weiß nicht, ob wir verloren haben. Wir müssen warten, wir müssen Geduld haben und sehen, was passiert. Wir hatten immer vor, bei der ersten Gelegenheit gegen die Gai-Jin loszuschlagen – ich hatte recht, sie in dem Moment anzugreifen.«
Shorin rappelte sich auf.
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