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Galgeninsel

Galgeninsel

Titel: Galgeninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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Empfindlichen das fühlbar, was an den Barometern der Stadt sichtbar wurde: mit dem verfrühten Sommerwetter war es vorerst vorbei. Die Zeiger fielen mit einer solchen Geschwindigkeit, dass auch das heftigste Klopfen an den Gläsern dem Niedergang keinen Einhalt gebieten konnte. Die Wetterfühligen spürten den anstehenden Wechsel in Armen, Beinen, alten Narben und in verschiedensten Ausprägungen wetterbedingter Kopfschmerzen.
    Schon am Morgen hatten sich düstere Wolken über dem See versammelt. Sie hingen so tief, dass weder Säntis, das Montafon oder die nach Norden weisenden Hügelketten des Schweizer Ufers erkennbar waren. Das inzwischen aufgebrachte Wasser des Sees brandete in Wellen, die man an dem gestern noch so friedlichen Ort nicht hätte erwarten können, in die Bregenzer Bucht. Ein beständiger Wind traf von Nordwesten her auf die Stadt, brach sich das erste Mal an Pulverturm und Bahndamm, stob über die Hintere Insel und jagte weiter durch die Gassen, immer weiter nach Osten. Der Wind und das zu unruhigem Leben erwachte Wasser trugen neue Geräusche zwischen die Mauern. Eine Melange aus hohem Pfeifen, schwindeligem Rauschen und dem beständigen Platschen der Wellen, die alles andere überlagerte.
    Und noch etwas brachte der Wetterumschwung. Am Ostufer, dort wo die Seebrücke auf die Insel traf und auf einer vorgelagerten Fläche die Spielbank ihre kantenfreien Glasflächen dem See zuwandte, dort wo das Wasser ein wenig ruhiger war und die vertäuten Boote in minderem Maße hysterisch auf und ab hüpften – an diesem Ort zog einer der Bootsverleiher mit einem langen Eisenhaken einen Packen an den Steg. Noch im Heranholen, als das große Bündel sich im Schwung einer Welle sanft drehte, wurde das aufgedunsene Gesicht eines Mannes erkennbar.
    Am dritten Tag nachdem ein Bankdirektor namens Kehrenbroich seinen Geschäftspartner Raimund Kandras als vermisst gemeldet hatte und Anna Kandras ihren Mann nicht als ihren Mann benennen wollte, konnte Schielin die Vermisstenakte Kandras zur Seite legen – und eine neue Akte eröffnen – eine Mordakte. Denn es war völlig unmöglich, dass sich der Tote selbst die Hände am Rücken gefesselt hatte.
    Und so plötzlich der Sturm über Stadt und See gekommen war, so plötzlich verschwand er in Straßen und Gassen. Als der wasserschwere Körper des Toten mit großer Mühe auf den gepflegten Uferrasen gebracht worden war, der elend zu Tode gekommene Körper regungslos dalag, im Schatten von Spielbank und Insel, genau in diesem Augenblick kehrte die Stille wieder, ohne dass es einer der Anwesenden wahrgenommen hätte. Schielin nicht, der versuchte, die besser ausgestattete Spurensicherung der Kollegen in Kempten herbeizutelefonieren. Und auch Lydia Naber nicht, die in großer Ruhe und Gewissenhaftigkeit die Leiche einer ersten Sichtung unterzog. Vom Sturm war nur ein Hauch geblieben, der sanft um die Altstadthäuser spielte. Umso schneller und gleich ungestüm, wie zuvor der Sturm, raste nun die Nachricht von Gasse zu Gasse, von Laden zu Laden, hinein in Hotels und Cafés. »Ein Toter. Sie haben einen Toten aus dem See gezogen«, und etwas leiser, flüsternd: »Es heißt, er sei ermordet worden. Ersäuft, im See. Umgebracht!«
    Sorgte die Nachricht zunächst für neugierige Erregtheit, so wich sie bald einem ruhelosen Schweigen. Ein Ermordeter, im See, bei uns, so nahe. So nahe, ein Mord? Und viele fragten stumm und sich der Erreichbarkeit der einem selbst Zugehörigen vergewissernd, wer es wohl sein mochte, der da tot aus dem See gezogen worden war. Und wer ihn getötet hatte?
     
    Schielin brauchte sich zu diesem Zeitpunkt die erste der Fragen nicht mehr zu stellen. Er und Lydia standen bereits am Anfang der Tätigkeiten, die der zweiten Frage eine Antwort verschaffen sollten. Es wurde ein langer Freitagabend, an welchem er Ronsard nicht zu Gesicht bekam. Der Tote war bereits auf dem Weg nach München, weil die Rechtsmedizin in Memmingen keine Ressourcen mehr frei hatte, und die Spurensicherer aus Kempten beäugten neidisch die großzügigen Altbaubüros ihrer Lindauer Kollegen. Sie sonderten dabei den ein oder anderen Spruch ab, auf den niemand einstieg, und schrieben dann stumm nieder, was ihre Arbeit erbracht hatte. Eine männliche Leiche, Mitte vierzig, einsneunzig groß, vollständig bekleidet. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, mehrfacher, einfacher Knoten und am Kopf deutliche Spuren stumpfer Gewalteinwirkung. In der Kleidung des Toten keinerlei

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