Galgeninsel
etwas aufgefallen? Ich dachte nur, Sie hätten etwas bemerkt«
Sie sah auf. »Es war nur … wegen dem Hemd.«
»Hemd?«, wiederholte Schielin.
»Ja. Das Hemd hier. Das ist nicht sein Stil.«
Sie schien zu überlegen. Nach einer kurzen Pause deutete sie auf das Laken und fragte: »Kann ich ihn ganz sehen?«
Schielin nickte. Ihm war aufgefallen, dass ein Hauch von Bitterkeit mitgeschwungen hatte, als sie ihn sagte. Und noch etwas war da gewesen. Er überlegte. Als er meinte es zuordnen zu können, war er sich nicht mehr sicher. Das, was sie sagte, hatte irgendwie enttäuscht geklungen. Enttäuschung?, fragte er sich stumm, während Lydia das Laken vorsichtig wegzog. Anna Kandras trat einen Schritt vom Tisch zurück. Sie schüttelte energisch den Kopf und sagte etwas zu laut für den Ort. »Er trug immer Anzüge, schwarze Anzüge. Ich kann diesen Aufzug hier wirklich nicht verstehen, diese weiten Cordhosen, das Hemd, … die klobigen Schuhe.«
Sie sah Lydia irritiert an. Ihr Ton war frei von Ironie. »Wissen Sie, er war der Meinung, einen gewissen Sinn für Eleganz zu besitzen und verband dies vor allem mit der Farbe schwarz, wenngleich ihm die intellektuelle Basis fehlte, damit eine innere Haltung, etwa zum Existenzialismus, zu verbinden.«
Schielin wunderte sich darüber, dass sie Lydia adressierte und nicht ihn. Offensichtlich war er hinsichtlich des aufgenommenen Themas ein nicht adäquater Gesprächspartner. Schon der Ton und die Formulierung, die sie gebrauchte. Stumm wiederholte er: »Einen gewissen Sinn für Eleganz«, und er unterließ es, seinen Augen den kurzen Ausflug auf seine Cordhose zu gestatten. Vielleicht hatte auch er nur einen gewissen Sinn für Eleganz. Immerhin war der Termin mit Witwe Kandras in dem Maße informativ und unterhaltsam, wie andere Aufenthalte hier emotional anstrengend waren. Er blieb stiller Beobachter und überließ Lydia die weitere Gesprächsführung.
»Ziemlich düster, immer nur in Schwarz gekleidet herumzulaufen, oder?«
Anna Kandras nickte.
»Und diese Kleidung hier finden Sie auffallend unpassend für Ihren Mann?«, fragte Lydia nüchtern.
»Wie ich schon sagte. Das war nicht sein Stil«
Schielin bemerkte ein verhuschtes Lächeln auf ihrem Gesicht als sie weitersprach.
»Es war sogar so, dass er diese Art von Landhausstil und Jodelmodernismus verabscheute. Es hätte auch nicht zur seiner Vorstellung des erfolgreichen Geschäftsmannes gepasst. In keiner Situation. Ich kann mir nicht erklären, was ihn dazu bewogen hat, so herumzulaufen. Verstehen Sie. Das passt einfach nicht zu ihm.«
»Wissen Sie, wie diese Narbe zustande gekommen ist?«, fragte Schielin.
Anna Kandras sah auf die Brust des Toten. Dann sah sie Schielin an und schüttelte den Kopf.
Schielin nickte Lydia zu. Sie ließen es vorerst dabei bewenden. Im Nebenraum wartete das Team darauf, endlich mit der Obduktion zu beginnen, und draußen im Gang stand schon die nächste Bahre.
Sie begleiteten Anna Kandras hinaus und vereinbarten für den nächsten Tag einen Termin. Als sie aus Schielins Blick verschwunden war, meinte er: »Das war ja vielleicht ein Auftritt. Ich bin immer noch ganz gerührt von der Betroffenheit und Trauer.«
»Also eine Heulsuse ist sie sicher nicht«, entgegnete Lydia, ohne dass ein kritischer Anklang dabei hörbar war.
»Du meinst, sie ist eine Frau, die ihre Emotionen sehr gut im Griff hat«, sagte Schielin.
Sie nickte nachdenklich, hängte ein gedankenverlorenes »Mhm« an und sah der dunklen Schönheit nach. Dann kehrten sie zurück und verfolgten das wissenschaftliche Tun der Rechtsmediziner.
Ronsard
Als Schielin am Abend nach Hause kam, stand sein Nachbar Albin Derdes im Hof und unterrichtete ihn sogleich darüber, dass Ronsard den ganzen Tag keinen Laut von sich gegeben hatte. Schielin war sich sicher, dass Albin zuvor drinnen bei Marja gewesen war, ihr das gleiche berichtet und dabei ein oder zwei Heidis gekippt hatte. Heidis , so nannte Derdes den Williams aus Maienfeld, den Marja von Besuchen bei ihrem Bruder mitbrachte.
Schielin nickte ihm beiläufig zu, so als würde ihn die Nachricht nicht sonderlich beeindrucken, und doch gingen ihm sorgenvolle Fragen durch den Kopf. Andererseits war es auf eigenartige Weise beruhigend zu wissen, dass allen, die es gewohnt waren, das Schreien seines Esels offensichtlich fehlte. Sie machten sich sogar Gedanken darüber, was der Grund dafür war.
Er wechselte noch einige Sätze mit dem guten Derdes, ging ins Haus,
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