Galgeninsel
stellte Schielin nüchtern fest.
»Na ja. Vielleicht ist es ja was … Platonisches.«
»Dann würde er sicher schreien.«
»Stimmt auch wieder. Also nicht verliebt und platonisch auch nicht.«
Schielin drehte sich im Autositz und sah sie von der Seite an. »Wie bist du denn heute drauf?«
»Ach. Eigentlich ganz gut.«
»So so, eigentlich. Daheim alles in Ordnung?«
»C’est toute parfait«, war ihre knappe Antwort.
Er ließ es dabei bewenden. Wenn sie mehr von ihrem Jungen und dem Künstler erzählen wollte, würde sie das sicher tun.
Sie wechselte das Thema. »Ich habe übrigens die Akte durchgesehen. Scheint ja ein eigentümlicher Kerl gewesen zu sein, dieser Kandras. Beide Eltern verstorben, keine Geschwister, von der Frau seit Jahren getrennt, aber nicht geschieden. Relativ reich, und trotzdem – keine Freunde. Nicht mal falsche. Der große Einsame, he?«
»Ist mir auch aufgefallen. Klingt verdammt einsam. Aber vielleicht findet sich noch der ein oder andere falsche Freund. Wir müssen uns übrigens noch seine Wohnung ansehen. Wenn es in München flott geht, klappt das vielleicht heute Nachmittag noch.«
»Seine Frau kommt, oder?«, frage Lydia skeptisch.
Schielin schüttelte den Kopf. »Seine Frau kommt, ja, aber sie ändert nichts an Kandras’ Einsamkeit. Als ich bei ihr war, da sprach sie immer nur von Kandras. Kein einziges Mal gebrauchte sie die Formulierung mein Mann oder benutzte seinen Vornamen. Sie sprach wie von einem Fremden, einem Geschäftspartner oder jemanden, den man flüchtig aus einem Verein kennt oder so.«
Lydia zuckte mit den Schultern und meinte: »Ja, und?«
»Ja und«, echote Schielin, »das ist doch eigenartig, oder findest du vielleicht nicht?«
»Nee. Überhaupt nicht. Schließlich leben die schon seit langem getrennt. Und wer weiß schon was das für eine Ehe war. Vielleicht ist genau das ihre Art von Scheidung.«
Schielin schwieg und ließ seinen Blick zwei Runden lang den Scheibenwischern folgen.
*
Im gerichtsmedizinischen Institut verlief der Termin wider Erwarten schnell und problemlos. Kaum waren Schielin und Lydia in den muffigen Räumen angekommen, erschien auch schon Anna Kandras. Sie trug ein dunkles Kostüm und hatte einen dezenten, dunkelroten Lippenstift aufgetragen. Es war aber nicht ihre Schönheit, die Schielin irritierte, sondern ihr von diesem so befremdlichen Ort völlig unbeeindrucktes Auftreten. Maß und Geschwindigkeit ihrer Schritte drückten Zielstrebigkeit und Sicherheit aus. Ihr Blick, der über die nüchterne Einrichtung wanderte, zeigte Interesse und kein Unbehagen. Sie schien weder von dem Ort noch von dem, was sie erwartete, beunruhigt oder verunsichert zu sein.
Nach der kurzen Begrüßung betraten sie den Obduktionsraum. Raimund Kandras Leichnam lag schon auf einem der Stahltische. Sein Haupt und der obere Teil der Brust waren nicht von dem grauen Laken bedeckt. Es war zu erkennen, dass die Fesselung noch nicht gelöst worden war. Das bewirkte, dass der Oberkörper verkrümmt auflag. Vom unteren linken Rippenbogen bis zum linken Schulteransatz war eine alte, hässliche, schlecht verwachsene Narbe zu erkennen.
Anna Kandras trat ganz nahe an den Tisch heran und sah auf den Toten. Lydia stand neben ihr. Schielin brachte sich schräg gegenüber in Stellung, denn er wollte Anna Kandras im Blick behalten. Sie stand aufrecht und regungslos vor Kandras. Schielin registrierte, dass die Fingerspitzen ihrer Hände leicht die Stahlkanten des Tisches berührten. Nicht um sich abzustützen, weil ihr vielleicht unwohl gewesen wäre. Nein. Es war ein weiteres Zeichen ihrer Scheulosigkeit gegenüber der Situation und vor allem gegenüber dem Toten, der vor ihr auf dem Stahltisch lag. Sie musterte ihn. Schielin musterte sie. Es war nicht das erste Mal, dass er mit Angehörigen an diesem Ort weilte. Dazu hatte er in den letzten zwanzig Jahren bei der Kriminalpolizei durchaus öfter Veranlassung. Aber noch nie hatte er Angehörige erlebt, die sich so verhielten wie Anna Kandras. Das war ihm noch nie begegnet. Er folgte dem Blick ihrer dunklen Augen, wie er langsam vom Gesicht des Toten zur Brust wanderte. Schielin sah, wie sie die Augen kurz zusammenkniff, offensichtlich an der Narbe hängen blieb. Eine halbe Minute mochte vergangen sein, dann hob sie den Kopf, blickte seitlich zu Lydia, und sagte mit ruhiger, fester Stimme: »Ja. Das ist Raimund Kandras. Was benötigen Sie von mir?«
Lydia Naber schüttelte nur den Kopf.
Schielin fragte: »Ist Ihnen
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