Galgeninsel
Ausweispapiere oder andere Dinge, die Hinweise auf seine Identität hätten geben können. Aber Schielin erkannte in dem wachsigen aufgeschwemmten Gesicht die Züge des Jungen wieder, der vor fast vierzig Jahren auf dem Schulhof herumtobte. Es war Raimund Kandras.
Lydia Naber fasste die bisherigen Fakten in Berichten zusammen, fertigte eine Tabelle mit Temperaturmessungen, die in halbstündlichem Abstand durchgeführt worden waren – Wasser, Boden, Leichnam – und schickte alles per Fax nach München, wo die Blätter in der nächtlichen Einsamkeit des gerichtsmedizinischen Instituts wieder zum Vorschein kamen. Schon am nächsten Tag würden sie mehr wissen. Schielin überlegte derweil, ob er Anna Kandras anrufen sollte oder ihr die Nachricht persönlich überbringen sollte. Kurz entschlossen nahm er den nächst besten Dienstwagen und fuhr die schon bekannte Strecke nach Schachen, nicht ohne seinen Besuch jedoch vorher anzukündigen. Anna Kandras ließ ihn soweit eintreten, dass sie die Tür noch schließen konnte. Draußen war es Nacht und der gewaltige Wohnraum erhielt von einer Stehlampe nur wenig Licht. Leise Klaviermusik erhellte den Raum weit mehr. Klingt nach Grieg, ließ sich Schielin kurz ablenken, kam dann aber schnell zur Sache und berichtete Anna Kandras, dass man ihren Mann gefunden hatte. Von der Abwesenheit jeglichen Erschreckens an ihr war er nicht mehr überrascht. Hingegen war er sich nicht sicher, was in diesem Augenblick wirklich in ihr vorgehen mochte. Ihr Wesen war ihm immer noch fremd. Ob das so bleiben würde?
Morgen würde sie jedenfalls in München zugegen sein, um Kandras, wie sie ihren Mann nannte, zu identifizieren. Wer sollte das auch sonst tun? Kandras Eltern waren beide schon tot, er hatte keine Geschwister und weitere Verwandtschaft gab es nicht. Freunde hatten sich bisher nicht gemeldet, und Kehrenbroich …?
Schielin hatte im Laufe seiner Ermittlungen fast Mitleid mit Kandras bekommen, als immer deutlicher wurde, dass er ganz alleine in der Welt stand. Vielleicht empfand er so, weil er sich selbst nicht vorstellen konnte, derart ohne familiäre und freundschaftliche Bindungen zu leben. Als er sich diese Gedanken machte, hatte der Einsame bereits zu einem Paket zusammengebunden in der Bregenzer Bucht geschwommen. Schielin wurde über die Gedanken müde und wollte zurück zum Wagen. Morgen war auch noch ein Tag. Da würde er alles Weitere mit Lydia besprechen.
Der Morgen begann mit einem einsamen Frühstück daheim in Motzach. Marja und die Kinder waren schon weg. Schielin hatte verschlafen und äugte missmutig hinaus in verregnetes Grau. Träume hatten ihn die ganze Nacht gequält. Selbst der Post-it mit den vier frechen Zeilen, den Marja an die Schlafzimmertür geheftet hatte, befreite ihn nicht aus seiner üblen Laune. Er rief Lydia an und bat sie ihn abzuholen. Nichts verabscheute er mehr als Hektik am Morgen. Er brühte Lindeskaffee und mischte die schwarze, nach Malz duftende Brühe zur Hälfte mit Milch. Der würzige Duft beflügelte die Gedanken. Wer brachte es fertig, diesem kräftigen Kerl, wie Kandras es war, auf den Kopf zu schlagen? Die Wunde befand sich zwischen Schläfe und Ohr, auf der rechten Schädelseite. Vielleicht ein Angriff von schräg hinten? Gleich ob von hinten oder von vorne. Nerven musste der Täter jedenfalls haben. Gute Nerven. Schließlich wurden Kandras alle Taschen geleert, die Hände gefesselt und er dann ins Wasser geschmissen. So in etwa stellte Schielin sich den Tathergang vor, während er den Magen schonenden Milchkaffee schlürfte und Radio Seefunk den Hintergrund beschallte. Der Täter musste sehr entschlossen gehandelt haben. Von draußen hörte er Motorengeräusch und kurz darauf das völlig unnötige Hupen. Lydia.
Sie arbeitete nun schon einige Jahre mit Schielin zusammen und merkte sofort, wie die Stimmung bestellt war. Bis kurz hinter Leutkirch sagte sie keinen Ton. Dann traute sie sich.
»Ich habe gehört Ronsard schreit nicht mehr. Ist er krank?«
Schielin überlegte. »Mhm. Ich denke nicht. Er macht einen ganz gesunden Eindruck.«
Sie lachte zur Windschutzscheibe hinaus. »Vielleicht hat er Liebeskummer?«, und ihr abruptes Schweigen danach ließ es so klingen, als hätte sie ungewollt einen Gedanken ausgesprochen.
Schielin sah sie an und schüttelte ungläubig den Kopf. »In wen denn? In einen der Friesen?«
Sie grinste böse und schielte zu Schielin hinüber. »Ein schwuler Esel, boooh.«
»Er ist kastriert«,
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