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Galileis Freundin (German Edition)

Galileis Freundin (German Edition)

Titel: Galileis Freundin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Tschauder
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Pesthauch ertragen zu können. Sie reichte mit ausgestreckter Hand einen Becher voller Wasser an die Lippen dieses einsamen Menschen. Das sterbende Kind trank. Eine winzig kleine B e friedigung in den zerstörten Gesichtszügen, dann fiel der Kopf erschöpft zurück in das Kissen. Ein dürrer Arm griff nach ihrer Hand. Über das faulende Gesicht des Knaben hatte sich die Haut an einigen Stellen dünn und durchsichtig wie ein Blatt Pergament gespannt. Ein leichtes Lächeln huschte über die mit schwarzen Beulen bedeckte Gesichtshaut.
    „Mama, Mama“, klagten die aufgeplatzten Lippen.
    Das Leid des Knaben begann von neuem. Noch einmal hielt die junge Markgräfin dem Kind den Becher an die Lippen. Noch einmal trank der vom Tode gezeichnete Körper. Diesmal gi e riger als das erste Mal. Dann fiel er vollends erschöpft zurück. Der Atem hatte schlagartig au f gehört.
    Auf dem Fußboden verfingen sich zwischen den Strohsäcken ihre Füße in den alten Kleidern des Knaben. Sie entwand sich erschreckt den stinkenden Stofffetzen . Langsam, so als wolle sie niemanden wecken, schritt sie die Stufen an der Außenwand des Hauses hinab.
    Die Bauersfamilie war wohl noch den ganzen Tag auf dem Feld bei der Arbeit. Oder waren sie alle vor der Pest ihres Sohnes geflohen? Caterina wollte nicht auf ihre Rückkehr warten.
    Das grausame Schicksal war in die Familie der Perdomini eingebrochen. Wie würde es enden? Wer war vielleicht noch erkrankt? Sie wollte, sie konnte niemandem einen Vorwurf machen. Wer hatte in dieser Situation Recht ? War es nicht auch die Aufgabe und die Pflicht der Eltern, die anderen Kinder und sich selbst am Leben zu halten? Musste nicht das jüngste Kind geopfert werden, damit die anderen überleben konnten?
    Zu Tode erschreckt lief sie zur Burg zurück. Die Flucht hatte den Sinn die anderen zu retten. Aber auch, um die Perdomini nicht wissen zu lassen, dass sie von deren Leid und Schmach, von der Art ihrer Entscheidung, Kenntnis bekommen hatte. Sie flüchtete auch, um die Perdomini nicht wissen zu lassen, dass sie dem kleinen Jungen zu Trinken gegeben hatte. Ihre Hilfe sollte nicht als Dank heischende Tat gesehen werden. Die Tat trug in sich keine willentliche En t scheidung. Es war ein selbstverständliches Tun, das sie nicht beeinflussen konnte. Es war nicht ihr Verdienst. Ihr inneres Gesetz war die Lenkung. Erst kurz vor der Burg verlangsamte sie ihre Schritte, um sich zu erholen und um Atem zu schöpfen. Niemand sollte bemerken, was geschehen war. Alles sollte normal wirken. Sie wollte ihre kleine Familie nicht in Angst und Schrecken jagen. Ruhig ging sie durch das hintere kleine Tor in den Park.
    Die Herrin von Picchena stieg in ihre Schlafkammer. Sie goss sich aus dem bereitstehenden Krug Wasser in eine Schüssel und wusch sich das verschwitzte Gesicht und die Hände. Erst jetzt fühlte sie sich wieder sauber und rein. Sie schloss die Läden vor den Fenstern, entkleidete sich, legte sich in die weichen Kissen und schlief sofort ein.
    Das sterbende Gesicht des Kindes hatte sich tief bei ihr eingeprägt. Es verfolgte sie bis in ihre Träume. Ein unbeschreibliches Gesicht. Es lag eine Verzweiflung auf diesem Gesicht, eine Trostlosigkeit und völlige Verlassenheit selbst von Mutter und Vater. Es war die grenzenlose Enttäuschung eines jungen Menschen, der bis dahin Liebe und Fürsorge, Zuwendung und G e borgenheit erfahren hatte. Es war das furchtbare Erlebnis, in dem Moment der höchsten Not ganz alleine zu sein, mehr noch, bewusst allein gelassen zu sein. Es war das Gesicht, geprägt von der Einsamkeit in einem unendlichen Welt en raum, ohne Zuneigung, ohne Wärme, in der bi t teren Kälte einer unverstandenen Welt. Alle diese Gefühle hatten sich in einem Ausdruck von Angst versammelt, die eine Angst aus vielen Jahrhunderten und Jahrtausenden war.
    Caterina träumte, sie verlasse ihr Schlafgemach. Sie sah ihren Körper im Bett liegen, schaute unbeeindruckt auf sich selbst, erhob sich, begab sich aus dem Fenster und bewegte sich in den dunklen Raum ohne Grenzen. Sie bewegte sich auf die Sterne zu, die sie als Kind hatte immer erreichen wollen. Jetzt auf einmal war es ganz leicht. Nur der Gedanke versetzte sie in Ersta u nen, dass sie früher immer geglaubt hatte, das sei schwierig. Jetzt bewegte sie sich dahin, wohin sie wollte, so schnell wie sie wollte, und es war ganz einfach. Sie begegnete in dem All dem kleinen Jungen aus dem Hofe der Perdomini. Er lächelte sie an. Sie nahm ihn an die Hand und beide

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