Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
meine Mutter Schulter an Schulter in Uropas Fahrradgroßhandel gedient. Jetzt kommen die alten Kriegsgeschichten wieder auf den Tisch. Die beiden spielen Erinnerungs-Pingpong.
«Weißt du noch, der alte Heinrich hatte doch so einen Brieföffner. Damit machte er sich die Ohren, damit bohrte er sich in der Nase rum, und damit spießte er seinen gekochten Schinken auf.»
«Ja, richtig! Schinken musste immer im Haus sein.»
«Dieser Brieföffner war in jeder Ritze seines Körpers.»
«Deswegen hatte der auch immer Nasenbluten.»
«Und wenn er einen guten Tag hatte, nahm er den Brieföffner und fragte: Na, auch ein Stück gekochten Schinken?»
«Aber der Schinken war hervorragend.»
«Ja, ein Gedicht war der.»
«Huuuuuch!», schallt es durch den Raum, und ich bin einen kurzen Moment benommen.
Für mich war die «Heinrich Gastmann KG» immer ein magischer Ort. Meine Mutter nahm mich manchmal mit in den bröckelnden Rotklinkerbau, der mit dichtem Efeu bewachsen war, das im Sommer dunkelgrün glänzte und im Herbst violett schimmerte. Nur die Fenster und das zitronengelbe Firmenschild schnitt man frei. Ganz unten in den verwunschenen Katakomben roch es nach Gummi und unverbleitem Benzin, das mochte ich, auch wenn überall Rattenfallen lagen. Im Parterre tippte ich heimlich auf der Registrierkasse herum oder turnte auf einem Satteltester, mit dem man acht verschiedene Fahrradsitze ausprobieren konnte. Und hinten im Lager sammelte ich Speichen und silbern glänzende Kügelchen, die aus den Kugellagern der Räder geflutscht waren. Durch die Büros in der ersten Etage tanzten Radiergummis und Briefmarkenschwämme, an den schweren Eichentischen hingen monströse Bleistiftanspitzer. Hier oben führte der alte Heinrich sein Regiment.
Er soll eine Sphinx gewesen sein. Völlig unberechenbar. Wenn jemand wirklich etwas verbrochen hatte und dachte: «Jetzt reißt mir der Alte den Kopf ab!», schenkte Heinrich ihm eine Tafel Schokolade. Wenn er dagegen an einem schlechten Tag eine Falte im Nachthemd entdeckte, konnte er völlig ausrasten. Dann flog der ganze Kleiderschrank durch den Raum. Wurde ein anderer mal laut, flüsterte Heinrich nur: «Man stille, man stille.» Vielleicht musste der Alte etwas kompensieren, er war sehr klein.
«Einsachtundfünfzig!», ruft Hanne. «Einsachtundfünfzig! Mich hat der immer an Tetzlaff erinnert. An Ekel Alfred!»
«Stimmt!», sagt meine Mutter. «Derselbe Scheitel, dieselben Hosenträger, dasselbe Hitlerbärtchen. Wenn der zur Arbeit kam, riefen wir immer: VDO!»
«VDO?», frage ich.
«Das war ’ne Tacho-Marke, wir meinten aber: Vorsicht, der Olle! Huuuuuch!»
Es gab viele illustre Gestalten in der Firma: den Buchhalter mit der Kartoffelnase, die Vertreter Marx und Engels und die Putzfee Ottilie. Sie hatte eine Piepsstimme, war die kleinste Person der Welt, hieß aber Frau Riese. Vielleicht, weil sie die riesigsten Brüste der Welt hatte. Einmal verlor sie wegen ihres beeindruckenden Vorbaus das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in den geflochtenen Mülleimer. Als Zweijähriger soll ich minutenlang vor ihr gesessen und wie hypnotisiert auf die enormen Gipfel unter ihrem Glitzerpulli gestarrt haben. Dann griff ich zu.
Alle Mitarbeiter hatten etwas gemeinsam, sie hassten das oberste Stockwerk. Dort, so erzählte man sich, würde Heinrichs dunkle Seele ihr Unwesen treiben. Denn sosehr die Sonne auch brannte, dort oben war es immer eiskalt. So blieb die Etage fast ungenutzt. Pappen und Holzstücke lagen auf dem Boden verstreut, und an einem Nagel am Balken baumelte die verstaubte Joppe meines Urgroßvaters wie ein Mahnmal. «Wenn der Alte wütend war», sagt meine Mutter, «dann stieg er in den dritten Stock, hängte seine Jacke auf und sägte Holz, um sich abzureagieren. Mit Schaum vor dem Mund.» Niemand hat sich je getraut, die Klamotte anzufassen. Und als die Firma in den Neunzigern abgerissen wurde, ging sie mit ihr unter.
Mein Urgroßvater hatte mit seinem Fahrradgroßhandel lange ein Monopol in Osnabrück. Doch anstatt seine privilegierte Stellung zu nutzen, kontrollierte er penibel, ob die Schwämmchen nass und die Bleistifte angespitzt waren, wie oft die Mitarbeiter zum Klo gingen und wie lange sie dort blieben. Wenn jemand zur Beerdigung musste, fragte er: «Kannst du das nicht verschieben?» Das war keine Ironie, Heinrich meinte es ernst. Gerne zog er auch Arbeitskräfte aus der Firma ab und ließ sie Frondienste auf seinem Bauernhof verrichten. Einmal zwang er seine
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