Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
stieß er seinerzeit in eine Marktlücke. Bis in die sechziger Jahre konnte man Schwangerschaften nur mit dem sogenannten «Froschtest» ermitteln. Die Apotheker nahmen Blut oder Urin der Kandidatinnen, spritzen es einem Afrikanischen Krallenfrosch, und wenn das Weibchen nach vierundzwanzig Stunden laichte oder das Männchen plötzlich Sperma verspritze, wusste man: Hier ist etwas im Busch.
Lotte selbst merkte mit siebzehn, dass ihr Radar mehr von der Welt erfasste als der von anderen. Auf der Schultoilette legte sie ihren Klassenkameradinnen die Karten: Würden sie einen neuen Freund kennenlernen? Wann? Ginge das mit dem gut? Ihr Können wuchs und wuchs über die Jahre, bis sie es eines Tages nicht mehr kontrollieren konnte. Lotte taperte durch die Fußgängerzone, und das Leid, der Stress, die Sünden, der Ärger und der andere emotionale Abfall fremder Menschen strömten auf sie ein. «Bringt mich in die Klapse! Steckt mich ins LKH!», bettelte sie damals – bis sie den Aus-Knopf fand. Heute sagt sie sich: «Schicksal, nimm deinen Lauf. Ich kann nicht alle Menschen retten, und ihre Sorgen sind nicht meine. Die Klienten bekommen ihre Probleme an der Haustür wieder zurück – hübsch eingepackt in Glanzpapier und mit einem rosa Schleifchen obendrauf.»
Auch ohne Markus Lanz oder Astro TV scheint sie ganz gut von der Wahrsagerei leben zu können. Ihre «Klienten», wie sie sagt, kommen aus Zürich, Liechtenstein und sogar aus Bangkok in die westfälische Provinz, für diesen Nachmittag hat sich eine Dame aus dem britischen Ascot angekündigt. Vor kurzem tauchte ein berühmter Mann mit vier bewaffneten Bodyguards vor ihrem Häuschen auf. Erst checkten die Security-Leute Lottes Wohnung, dann rollten sie mit der gepanzerten Limousine in die Einfahrt und schleusten den VIP durch die Kellertür ins Innere.
«Der Typ hat bei mir erst mal zwei Stunden geheult.»
«Ein Politiker?»
«Dazu darf ich nichts sagen.»
Man muss wissen, worauf man sich bei Lotte einlässt. Eine Session mit ihr ist keine Kuschelstunde. Sie faselt nichts von «rosiger Zukunft» oder «baldigem Geldsegen». Lotte sagt dir unverblümt die Wahrheit, ob du sie nun hören willst oder nicht.
Wir hocken uns face to face in ein schmales Arbeitszimmer mit Blick auf einen Acker. Keine Voodoo-Puppen, keine Schrumpfköpfe, kein gedämpftes rotes Licht. Auf dem Registerschrank blinkt ein Anrufbeantworter, den runden Tisch bedeckt ein dunkelblaues Tuch mit Halbmonden und goldgelben Sternchen, das ist die einzige esoterische Extravaganz. Lotte trägt dunkle Leggings und einen weiten grauen Pullover. «Im Bad, da hängt ein Bild von ’ner dicken Frau mit ’nem kleinen Kopp. Ich sag immer: Da hab ich für Modell gestanden!» Ihre Wangen leuchten auch ohne Zigeunerrouge, und witzigerweise hat sie genau meine Frisur: wilde weiße, abstehende Ananashaare. Madame steckt sich eine brennende Zigarette in den Mundwinkel, mischt die Tarotkarten und breitet sie vor mir aus: «Zieh, Cowboy!»
In dieser Sekunde geht mir immer der gleiche Gedanke durch den Kopf. Ich möchte Lotte testen. Ich möchte ihren Hokuspokus entlarven. Ich möchte, dass sie einen Fehler macht. Lotte sagt, alles im Leben sei vorbestimmt. Das Schicksal wisse bereits, welche Karten ich ziehen werde. Da könne ich machen, was ich wolle. Ich tippe also von links nach rechts über die verdeckten Karten und fische eine heraus, von der ich glaube, dass ich sie eigentlich niemals ziehen würde. Ich drehe die Karte um und sehe eine Schlange und einen blutroten Schakal, sie sitzen auf einem goldenen Rad. Lotte reißt mir das Blatt sofort aus der Hand. «Langweilig!», blafft sie. «Rad des Schicksals, berufliche Veränderung, blablabla, da erzähl ich dir ja nichts Neues. Jetzt misch du mal!»
Ich beherrsche nur den Bauerntrick: zwei Stapel bilden, die Innenseiten mit den Daumen anheben und loslassen. So verzahnen sich die Karten, ich schiebe die beiden Stapel zusammen, lege ab, und Lotte arrangiert ein Mosaik aus zweiundzwanzig Blatt auf der Tischdecke. Sie bildet sieben Dreier-Pärchen und legt eine einzige Karte an die Seite: die Sonne. Nun vergeht eine Ewigkeit. Bald habe ich das Gefühl, nicht Lotte säße grübelnd vor mir, sondern Helmut Schmidt persönlich. Tief in sich versunken, betrachtet sie das farbenfrohe, verwirrende Bild, massiert ihre Stirn, murmelt etwas und quarzt. Zwischen den Schwaden erkenne ich den Kelchritter am rechten Rand, er könnte mich symbolisieren. Einige andere Karten
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