Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Frau. Im Esszimmer ist ein Kühlschrank mit Wasser und Cola, da findest du auch Kekse und anderen Süßkram. Wenn du jemand schreien hörst, dann ist es unsere Tochter Isabelle, die Hunger hat. Wenn du jemanden bellen hörst, dann ist es unser Hund Rex, der Hunger hat. Okay?» Völlig okay. Ich bedanke mich und erzähle den beiden von meinem großen Abenteuer zu Fuß. «Canossa!», ruft Piera, «Canossa! Wir haben einen guten Freund, der da unten geboren ist. Er sagt, Canossa sei wunderschön!» Irgendwie überrascht mich das nicht.
Dann taucht ein Problem auf: Das nächste geöffnete Restaurant ist ein paar Kilometer entfernt.
«Wir könnten Pizza für dich bestellen!», sagt Roland, und die pinkfarbene Piera boxt ihn in die Seite: «Wir bestellen doch keine Pizza! Du wirst gefällig für den Jungen kochen!»
Mir ist das etwas unangenehm, schließlich wohne ich bei den Leuten zu Hause und nicht in einem Hotel. Ich wiegle ab, doch jetzt kann ich Roland nicht mehr bremsen.
«Ecco, was darf es sein: Agnolotti mit Salbeibutter oder Gnocchi mit Spinat?»
«Ähm, wenn es wirklich keine Umstände macht …»
«Kein Problem! Agnolotti oder Gnocchi?»
«Dann die Agnolotti.»
«Bene. Und als Vorspeise? Grünen Salat mit Mais, Tomaten und Eiern?»
«Oh, das wäre phantastisch.»
«Und was willst du als Seconda?»
«Roland, ein Gang reicht wirklich, danke.»
«Fleisch?»
«Na ja …»
«Kein Fleisch?»
«Doch, gerne.»
«Kein Problem, ich mache etwas», sagt er, und wenig später tischt er im Esszimmer der Crosazzos ein so feierliches Mahl auf, dass es mir fast schon peinlich ist. Agnolotti, Chefsalat und Saltimbocca, dazu frisches Brot, eine Flasche Wasser, eine Flasche Cola und einen Piccolo. «Hör auf, dich zu bedanken!», sagt Roland. «Das ist nichts! Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich dir was Ordentliches gekocht!» Das Kind schreit im Schlafzimmer, der Hund bellt auf der Empore, und ich diniere in einem Ensemble aus Familienfotos, Ölgemälden und gehäkelten Deckchen. In der Stube läuft der Fernseher, und Roland sieht immer mal wieder nach, ob es dem «Ragazzo tedesco» auch schmeckt.
Sechs Jahre ist es her, dass die beiden ihr trautes Heim in ein Bed and Breakfast umgewandelt haben. Damals feierte Turin die Olympischen Winterspiele, und Hotelzimmer waren in ganz Piemont rar. Zwei große Räume auf der oberen Ebene dienen jetzt als Fremdenzimmer mit separatem Bad, und unten gibt es noch ein weiteres Gäste-Appartement. Über den Winter habe dort ein Mädchen aus Neapel gewohnt, erzählt Roland, das immer auf neunundzwanzig Grad geheizt habe, damit sie es so warm hatte wie in Süditalien. «Ich konnte also die komplette Miete an den Heizungsanbieter weitergeben. Ist das zu glauben?»
Wer weiß, vielleicht ist Italien pleite, weil es so unglaublich großzügig ist. Wie gastfreundlich ist eigentlich meine Heimat? Ich habe einmal eine Russin kennengelernt, die von Deutschland schockiert war. «Da wirst du nach Hause eingeladen, und was packen die auf den Tisch? Salzstangen und Erdnüsse. In meiner Kultur ist so etwas eine Beleidigung», meinte sie, «und gibt es eigentlich irgendein anderes Land auf dieser Welt, das die festlichste Mahlzeit des Tages Abendbrot nennt?» Ich beende den Tag mit einem Grappa aus der Hausbar, am nächsten Morgen frühstücke ich opulent, und für das gesamte Vergnügen verlangt Roland siebenunddreißig Euro. Ich muss ihn dazu zwingen, Trinkgeld anzunehmen, im Gegenzug möchte er mich unbedingt nach Turin fahren. Aber das ist nun wirklich zu viel des Guten. «Seid ihr eigentlich bei Facebook?», frage ich ihn. «Nein, wieso? Unser Haus ist Facebook!»
Vielleicht hätte ich sein Angebot annehmen sollen, denn natürlich verirre ich mich im Irrgarten der Metropole. Irgendwie gerate ich sogar auf eine Schnellstraße und muss über eine Mauer in ein Waldstück flüchten. In Rivoli, zwölf Kilometer vor Turin, sieht es aus wie in Beirut nach einem Bombenangriff. Der Wochenmarkt bricht gerade seine Zelte ab, und über den Platz verteilt liegen Berge aus Obstkisten, Pappkartons und Müllbeuteln. Entnervt will ich den Bus nehmen, doch die Schüler an der Haltestelle lachen über mich. Warum? Weil ich so aussehe, wie ich aussehe. Mit meinem Landstreicher-Look passe ich prima in die Berge, aber überhaupt nicht mehr in die Großstadt.
Es ist ein seltsames Gefühl, plötzlich über weißen Marmor zu laufen. Turin erinnert mich an Paris, Wien oder St. Petersburg. Wohin
Weitere Kostenlose Bücher