Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Fenster, Alberto schenkt Rotwein ein und flüstert der blonden Bedienung etwas zu. Sie kichert und schaut irritiert. Die beiden diskutieren eine Weile, dann verschwindet sie in die Küche und kehrt mit fünf Tellern Antipasti zurück. «Der Junge war noch nie in Italien», sagt Alberto, «dann wollen wir ihm mal zeigen, was er verpasst hat!»
Etwas ängstlich sehe ich dabei zu, wie die Kellnerin die Vorspeisen auf der weißen Tischdecke verteilt. Eine Platte mit warmen Kartoffeln, Fisch, Garnelen und Zitronen. Eine Platte Vitello Tonnato. Eine Platte warmen Schinken mit Parmesankäse. Eine Platte Ziegenkäse mit Anchovis, Tomaten und Oliven und eine Platte Parmaschinken mit Ananas. Ich muss in ein Paralleluniversum geraten sein. Was die «Vieille Poste» auf französischer Seite ist, muss die «Albergo della Posta» auf italienischer Seite sein. Doch im gleichen Maß, wie mich das polnische Essen erschlagen hat, streicheln mich die Wunder auf den Tellern der Familie Bolognesi. Jedem Biss folgt eine kleine Explosion. Das Fleisch zerfällt auf der Zunge, der Ziegenkäse schmilzt wie Butter in der Pfanne, und selbst etwas so Banales wie warme Kartoffeln gibt mir das Gefühl, ich hätte noch nie zuvor beim Essen wirklich Lust empfunden. Erst nehme ich nur zaghaft von jeder Platte, dann umso mehr. «Mangia, mangia!», grinst Alberto. «Na los: Iss, iss!»
Ich esse und esse und esse, und dann rollt auch schon die nächste Angriffswelle auf meine Geschmacksnerven zu. Primi, der erste Hauptgang: Penne all’arrabbiata, Cannelloni, Risotto und Involtini in grüner Soße. Wieder hat Alberto das gesamte Repertoire der Küche auffahren lassen. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, der Bergpirat ruft «Mangia, mangia!», und während ich auch diesen Gang restlos verputze, fällt mir eine Geschichte ein, die mir mein Stiefvater mal über sich erzählt hat.
Klaus machte seinen Eltern in jungen Jahren große Sorgen. Er war viel zu mager. Und das, obwohl ihn seine Mutter mit allen Kalorienbomben verköstigte, die ihr schwäbisches Kochbuch hergab: Spätzle mit Käse, Dampfnudeln, Zwiebelrostbraten. Der Junge wollte einfach keinen Appetit entwickeln. In ihrer unendlichen Verzweiflung griffen seine Eltern zum allerletzten Mittel. Sie setzten ihn auf die Rückbank ihres schlüpfergrünen Fiat 600 und juckelten über den Brenner nach Italien. Ihr Klausi machte große Augen, als er auf den Tischen hinter den Alpen die Spaghettiberge erblickte. Zum Dessert gab es Käse, und sogar der Salat schmeckte ihm, obwohl er nur mit Essig und Öl angemacht war. Bald wurde der Junge in Italien von Familie zu Familie durchgereicht, gemästet, und sagen wir es mal so: Bis heute hatte mein Stiefvater nie wieder das Problem, zu dünn zu sein.
Das «Mangia, mangia!»-Massaker geht in die dritte Runde, die Secondi Piatti nahen. Diesmal handelt es sich vergleichsweise um eine Kleinigkeit: Kaninchen mit frittiertem Blumenkohl und Kartoffelbrei. Als ich den Kohl aufspießen will, zerfällt er. «Come un fiore!», sagt Alberto. «Siehst du: leicht wie eine Feder!» Der Genuss endet mit einem Espresso, Amarettini und einer fabelhaften Crème Caramel. Ich muss an Renato aus Gladenbach denken. «Italien wird dich lieben!», hat er gesagt, und es ist wahr: Noch nie bin ich so schnell und herzlich aufgenommen worden wie bei den Bolognesis. Es mag ein korruptes, durchtriebenes und verfressenes Land sein, aber jetzt und hier ist es mein korruptes, durchtriebenes und verfressenes Land. Ach ja: Alberto hat mich gebeten, unbedingt noch einmal sein hervorragendes Sportgeschäft zu erwähnen. Es liegt in Sant’Anna, am Ortsausgang von Novalesa. If skiing is your drug, Bolognesi is your dealer.
Von nun an laufe ich nicht mehr, ich lasse mich von den Endorphinen tragen. Mein Gehirn schickt mich auf einen Trip von einer Filmszene in die nächste. Ich walzere durch «Solino», schleiche durch den «Paten» und fahre wie Russell Crowe in «Gladiator» mit meiner rechten Hand durch das hohe Gras am Straßenrand. Meine Wanderung wird zwischen Olivenbäumen, Zypressen und Lorbeer zu einer langsamen Ballade, Kirschblüten schneien durch die Frühlingsluft.
Wer auch immer vor mir an dieser Stelle über die Alpen gekommen sein mag, ob Hannibal, Cäsar oder Napoleon, er wird die gleiche, unendliche Euphorie empfunden haben. Dieses Glück, wenn sich nach vielen beschwerlichen und beklemmenden Tagen die Täler allmählich wieder öffnen und den Blick auf den Horizont
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