Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
freigeben. Auch Heinrich muss davon überwältigt gewesen sein. Es heißt, als er italienischen Boden betrat, «da strömten alle Bischöfe und Grafen Italiens um die Wette zu ihm, empfingen ihn, wie es sich für die königliche Würde geziemt, mit höchsten Ehren, und innerhalb weniger Tage scharte sich ein unermesslich großes Heer um ihn». Natürlich nicht ohne Hintergedanken: Sie hofften, Heinrich sei gekommen, um gegen das Chaos und das Verbrechen im Land vorzugehen. Anscheinend hat sich Italien bis heute nicht verändert.
Ein Fahrradweg bringt mich von Dorf zu Dorf, und obwohl die Strecke ab jetzt eben ist oder leicht abwärts führt, gehe ich immer noch so bedächtig wie ein alter Italiener. Warum sollte ich hetzen? Ich habe die Alpen bezwungen, was kann mich jetzt noch aufhalten? Etwa die letzten, lächerlichen dreihundert Kilometer bis Canossa? Verdammt, ich bin endlich angekommen, und die Leute reagieren so, als hätten sie schon lange auf mich gewartet. Die Alten sitzen feixend auf den Piazzen und grinsen mich zahnlos an, junge Typen im hellblauen Italia-Jogginganzug zeigen mit ihrem Siegesfinger auf mich und rufen mir über das Kopfsteinpflaster «Ey! Complimenti!» zu. Und ich sauge all diese Eindrücke in mich auf – Mangia, mangia, nicht nur mein Magen, auch meine Seele frisst sich durch dieses Land. Lieber Gott, denke ich mir, bitte lass mich niemals aus diesem wunderbaren Klischee stürzen, durch das ich gerade wandere.
Und plötzlich bin ich Sean Connery im Mönchsgewand und laufe auf das Heiligtum des Piemont zu: die eintausend Jahre alte Sacra di San Michele, ein ehemaliges Benediktinerkloster auf dem spitzen Monte Pirchiriano. Der gigantische, von hohen Schutzmauern umgebene Bau wirkt nicht nur genauso furchteinflößend wie die Abtei aus «Der Name der Rose», er soll Eco sogar zu seinem Roman inspiriert haben. Die Scalone dei Morti, eine steile, direkt in den Fels gehauene «Treppe der Toten», führt an den Gräbern der Äbte vorbei ins Innere. Jahrhundertelang war dieser Ort eine Raststätte für Pilger, die über den Col du Mont Cenis kamen und nach Rom zogen. Doch ich ahne, was passiert, wenn ich jetzt auf diesen Berg steige und das Gruselkloster betrete. Entweder werde ich unsittlich berührt, stürze mich aus unerklärlichen Gründen aus einem Turmfenster oder ende mit dem Kopf voran in einem Fass voll Schweineblut. Außerdem sehe ich, dass sich mehrere Reisebusse die Straße hinaufquälen. Nein, das ist nicht meine Party.
Ich bleibe in meinem kitschigen Romantic Movie, steige auf die nächste Anhöhe und übernachte in einem Schmetterlingsgarten. Der «Giardino Farfalle» ist das Heiligtum der Familie Crosazzo, eine weiße, rosenumrankte Villa mit Blick auf Turin, auf die Abtei und die Seen von Avigliana. Roland und seine Frau Piera haben aus ihrem geliebten Zuhause eine Bed-and-Breakfast-Unterkunft gemacht. Die beiden empfangen mich an ihrem Gartentor fast so überschwänglich wie der Bolognesi-Clan in Novalesa. Roland, ein hagerer Typ mit schwarzen Locken und Zahnlücke, ist genau mein Jahrgang, das merke ich sofort. Irgendwie haben alle Jungs, die 1978 das Licht der Welt erblickten, dieselbe lauernde Zurückhaltung, denselben Glanz in den Augen und dieselbe merkwürdige Ironie. Piera hat wilde pinkfarbene Haare, ist klein, eher kompakt und führt das Regiment: «Er kocht, ich esse. Basta. So einfach ist das!»
Auch bei der Inneneinrichtung scheint sie federführend gewesen zu sein. Ich beziehe das Zimmer «Magnolia», einen Prinzessinnentraum. Auf dem elfenbeinfarbenen Bett, das mit Goldapplikationen versehenen ist, liegen zwei rosafarbene Rüschenkissen. Die Lampen auf den Nachtischen sind zartrosa, die Rüschenvorhänge weißrosa, die Verzierungen auf dem dunkelgrünen Teppich graurosa. An den hellrosafarbenen Wänden hängen goldene Marienbilder und ein goldgerahmtes Ölgemälde, es zeigt die Innenstadt Turins im vermutlich 18. Jahrhundert. Der Kristallleuchter an der Decke gibt dem rosa-weiß-gold-dunkelgrünen Ensemble ein schrecklich-schönes Finish. «Molto bene!», rufe ich etwas verwundert. «Wunderbar!», und die beiden fühlen sich geehrt.
Bed and Breakfast bedeutet: Ich bekomme mein eigenes Bett und frühstücke irgendwo mit den Leuten in ihrer Wohnung. «Nutz mein Haus», sagt Roland, «geh, wohin du willst, und tu, was immer du möchtest. Lies meine Bücher, benutz meinen Computer, geh in meinen Garten, sitz auf meinem Balkon, nur bitte lass die Finger von meiner
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