Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
sein Gefolge nur unter Lebensgefahr in die Ebene gelangten. «Sie krochen bald auf Händen und Füßen vorwärts», schreibt der Chronist, «bald stützten sie sich auf die Schultern ihrer Führer, manchmal auch, wenn ihr Fuß auf dem glatten Boden ausglitt, fielen sie hin und rutschten ein ganzes Stück hinunter.» Angeblich zog man die Frauen auf Rinderhäuten bergab, den Pferden band man die Beine zusammen und ließ sie «mit Hilfe gewisser Vorrichtungen» den Hang hinab. Leider nützten diese «gewissen Vorrichtungen» offenbar wenig – die meisten Tiere überlebten den Abstieg nicht oder wurden schwer verletzt. Ach, wäre der König doch nur zu Fuß nach Canossa gegangen! Er musste ja unbedingt reiten.
Signore Bolognesi und ich wandern mittlerweile über einen uralten Pfad, den, wie er sagt, die Römer gepflastert haben. Ganz genau wisse er es zwar nicht, aber es sei ja auch egal. Immer wieder bleibt er stehen, bückt sich und tätschelt einen der Steine auf dem Boden. «Bene», murmelt er, «gut, dass jemand die Wege pflegt.» Die Natur scheint hier im Piemont viel weiter zu sein als drüben in der Haute-Savoie. Ich bin kein Botaniker, aber es sieht aus, als hätte der liebe Gott buntes Konfetti aus dem Himmel regnen lassen. Im hohen Gras liegen Blüten in allen Farben des Regenbogens, und am Wegesrand leuchten Rosen und knallrote Mohnblumen. «Das ist kein Wunder», sagt Alberto, «auf einer Seite des Mont Cenis scheint immer die Sonne. Und rate mal, welche Seite ich meine!» Ich drehe mich um und sehe, dass der Berg weint. An mehreren Stellen ergießen sich schmale Wasserfälle von seinen Hängen ins Tal. Wir haben die Bestie trotz Kaffee- und Murmeltierpausen in rekordverdächtigen sechseinhalb Stunden bezwungen.
Schon am Mittag erreichen wir Albertos Heimatdorf. «Nicht schlecht», sagt er, «gar nicht schlecht. Man merkt, dass du schon ein paar Kilometer unterwegs bist! Rispetto!» Novalesa ist der Ort, den ich immer vor Augen hatte, wenn ich im Regen über die Seitenstreifen der Landstraßen marschiert bin. Es ist das kleine Bergdorf aus meinen naiven kindlichen Italienträumen. Die Gassen sind so eng, dass sich die verzierten Balkone der Häuser fast zu berühren scheinen. Was ich in Deutschland oder Frankreich heruntergekommen nennen würde, finde ich hier auf einmal inspirierend: Ein Land verfällt in Schönheit. Ohne bröckelnden Putz und blättrige Fassaden würde mir hier etwas fehlen.
Die verwaschenen Fresken an den Wänden der Chiesa di Santo Stefano erzählen von den schrecklichen Qualen, die auf arme Sünder im Fegefeuer warten. Geflügelte Teufel erschlagen die Huren, zerhacken den Eitlen, rammen dem Gefräßigen einen Trichter in den Hals und füttern ihn mit flüssiger Glut. Es könnten Szenen aus «Der Name der Rose» sein. Tatsächlich wird Novalesa bei Umberto Eco an einer Stelle erwähnt: Der Mönch William von Baskerville, den Sean Connery in der Literaturverfilmung spielt, lobt die Abtei des Ortes aus dem 8. Jahrhundert. Dort befindet sich eine Bibliothek mit Tausenden Büchern aus dem Mittelalter.
Und es gibt noch etwas, wofür Novalesa weltberühmt ist: die «Albergo della Posta», das Hotelrestaurant der Familie Bolognesi. Alberto öffnet die Tür, und ab jetzt läuft alles wie in einem klischeetriefenden Kinofilm. Mama Bolognesi, Papa Bolognesi, Opa Bolognesi, Brüder, Kinder und Tanten Bolognesi eilen auf uns zu und machen einen Radau, als wären wir gerade nach vielen Jahren von der Front zurückgekehrt. Albertos Vater nimmt meine Hand und fährt mit der anderen durch meine goldenen Zottelhaare. «Tedesco!», ruft er. «Ein Deutscher! Bravo!» Der Eingangsbereich des Gasthofs ist Bar, Souvenir-Shop und Tante-Emma-Laden zugleich. In den Regalen hinter der Kasse lagern Batterien, Zahnbürsten, Rasiergel, Shampoos und eine Legion Zigarettenpackungen. Neben dem Sekundenkleber steht eine kleine Statue, die mir bekannt vorkommt. «Ist das etwa Padre Pio?», frage ich. «Si, si», sagt Alberto, «aber jetzt lass uns was essen gehen!»
Das Restaurant der Bolognesis ist eine lichtdurchflutete Kathedrale mit hohen Fenstern, Kronleuchtern und hölzernen Säulen, und es scheint, als würde sich das ganze Dorf in diesem Tempel laben. Alberto geht von Tisch zu Tisch und legt seine Hände in die der Gäste. Auf allen Tafeln steht eine ganze Flasche Rotwein, mindestens eine Flasche Wasser und ein Strauß Grissini, jedes Brotstäbchen ist einen halben Meter lang. Wir setzen uns an ein
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