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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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rinnen mir in die Augen, Tropfen fallen von der Spitze meines Kinns auf das glänzende Leder der Schuhe, die Thermoskanne und meine beiden Wasserflaschen sind leer, die Schokoladen-Müsliriegel zerfließen im Rucksack, das linke Knie beginnt zu quietschen wie ein rostiges Scharnier, und plötzlich sticht es auch noch in meiner Hüfte. Wow, ein ganz neuer Schmerz, herzlich willkommen im Club. Trotzdem komme ich voran, das Adrenalin trägt mich von Hügel zu Hügel. Wandern heißt auch Leiden, und ich ziehe unermüdlich weiter.
    Noch immer zischen die fluchenden Litfaßsäulen Welle um Welle an mir vorbei, so als würde Heinrichs wütender Geist auf den höchsten Zinnen der Burg toben und bunte Blitze auf mich herabfeuern. Der alte König muss mich hassen, ich zerstöre gerade seinen Mythos. Links und rechts der Straße lauern große braune Mülltonnen mit weit aufgerissenen Mäulern. Die meisten Radler haben sie offenbar verfehlt, denn ein Meer aus weißen Deckelchen und zerdrückten Plastikflaschen bedeckt den Boden der letzten, quälend langen Steigung. Du packst das nicht, sagen meine Unterschenkel, du packst das nicht, sagt mein quietschendes Knie, du packst das nicht, sagt meine Hüfte. Ich packe das, sagt mein Verstand, und ich kämpfe mich Schritt für Schritt immer höher bis auf den Kamm.
    Oben treffe ich auf eine Kreuzung, an der jemand auf mich wartet. Ein verdutzter Rentner in neongelber Warnweste. «Castello Canossa?», frage ich. «Si, si! A sinistra, nach links, nur zwei Kilometer!», antwortet der Streckenposten ganz automatisch. Trotzdem zieht er ein Gesicht, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen. Mein Kopf ist puterrot, wahrscheinlich ist es eine Frage von wenigen Minuten, bis sich das Fleisch von meinen Knochen löst. «Overheated, overheated!», rufen meine Freunde immer, wenn mir das passiert. Ich bin und bleibe nun mal ein nordischer Typ. Innerlich kochend, schleppe ich mich noch ein paar hundert Meter weiter und glaube bald, eine Fata Morgana zu sehen, denn hinter der letzten Kurve steht ein Erfrischungsstand: ein schwarzes Partyzelt, ein Tapeziertisch und fünfhundert kleine, eisgekühlte Plastikflaschen. Als hätte man das alles für mich aufgebaut und schon seit Wochen auf meinen Zieleinlauf gewartet. Ein Junge mit Schirmmütze und Radlerhosen drückt mir halb mitleidig, halb bewundernd eine Flasche Wasser und eine Banane in die Hand. Derweil beschallen zwei DJs das Tal mit Popmusik.
    Ein Pressefotograf kommt auf mich zugeeilt und möchte unbedingt eine Aufnahme von mir machen. Er sagt, in meinem Aufzug würde ich großartig vor dem Castello Canossa aussehen, ein wenig wie dieser deutsche König aus dem Mittelalter. «Castello Canossa?», rufe ich und drehe mich blitzartig um. Genau in der Sekunde, in der ich die Burg das erste Mal sehe, singt der viel zu früh verstorbene Robert Palmer aus den Lautsprechern «Oh, oh mercy, mercy me». Witzig. So hatte ich mir diesen großen Moment nicht vorgestellt. Allerdings hätte ich auch nie geglaubt, dass es auf dem furchterregenden Mont Cenis Milka-Alpenmilchschokolade gibt.
    Die legendäre Burg Canossa ist zwar nur noch eine Ruine, trotzdem wirkt sie sicher noch genauso erhaben wie vor eintausend Jahren. Sie hat etwas Magisches. Ihre letzte, steinerne Außenwand trotzt Wind und Wetter auf einem gigantischen, über und über mit Bäumen bewachsenen Felsen. Der riesige, zerklüftete Stein überragt alle anderen Hügel dieser Gegend. Es wirkt, als hätte ihn ein Riese in die grüne Landschaft geworfen. Um die Klippe herum stehen fünf Häuschen mit roten fleckigen Ziegeldächern wie Fliegenpilze. Benvenuti a Canossa. Ist das zu fassen, ich bin wirklich da!
    «Sunday Bloody Sunday», «Roxanne» und «Sweet Child o’ Mine» begleiten mich bis an den Fuß der Festung. Jemand hat sich die Mühe gemacht, direkt unter dem Felsen ein rot-weißes Wanderschild aufzustellen: «Castello di Canossa: 0,1 km». Das gefällt mir. Canossa schien immer so unwirklich und völlig unerreichbar, nun ist es meine Wohnung in Hamburg, die utopisch weit entfernt scheint. Ganz genau 999,99 Kilometer Luftlinie. Welcher Trottel würde die ganze Strecke zu Fuß laufen?
    Neben dem Briefkasten und der Klingel am Eingang der Burg hängt eine Hausordnung. Man bittet mich, die Ringmauer nicht zu beschädigen, keine Brände zu legen und nicht auf Bäume zu klettern. Ich habe Glück, die rostige Pforte ist geöffnet, ich trete ein und schreite langsam und würdevoll die flachen,

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