Ganz oder gar nicht
Gefahr würde in ein paar Wochen vorüber sein, und daraufhin hatte sie sich vorgemacht, die Gefahr existiere eigentlich nicht wirklich.
Jetzt sah es so aus, als müsste sie die Situation neu einschätzen. Aber wie?
Es wurde immer später, und er kam immer noch nicht. Ob er in einem anderen Zimmer schlafen würde?
Rosalind versuchte zu lesen, aber der Thriller half ihr nicht, sie von ihren Sorgen abzulenken, dazu war die Geschichte viel zu düster. Eine nette kleine Liebesgeschichte, das hätte sie jetzt gebraucht, aber der Stapel von Taschenbüchern, die sie sich zusammengestellt hatte, war aus dem Schlafzimmer entfernt worden. Offenbar war das Personal überzeugt, dass Bücher ausschließlich in eine Bibliothek oder ein Arbeitszimmer gehörten. Rosalind war noch nicht dazu gekommen, darum zu bitten, ein paar Bücher für sie im Schlafzimmer liegen zu lassen.
Sie legte das Buch zur Seite, doch zum Schlafen war sie längst noch nicht bereit. Schließlich beschloss sie, sich ein anderes Buch aus der Bibliothek zu holen.
Im Haus war es dunkel, aber wenn sie ein Licht eingeschaltet hätte, wäre sicher von irgendwo einer der Diener gekommen, und sie wollte niemanden stören. Sie kannte ja den Weg, und der Innenhof wurde vom Sternenhimmel genug beleuchtet.
Vielleicht hätte sie sich etwas überziehen sollen, für den Fall, dass sie auch jetzt überwacht wurde. Sie trug nur ein großes T-Shirt, dessen Ärmel sie abgeschnitten hatte und das ihr kaum bis zur Mitte der Schenkel reichte. Aber jetzt war es ohnehin zu spät. Sie ging weiter.
Rosalind erreichte den Innenhof, an dem Najibs Arbeitszimmer lag. Kein Licht fiel aus dem Fenster.
Dass sie insgeheim doch gehofft hatte, er sei noch dort, merkte sie an dem Grad ihrer Enttäuschung.
Er schlief heute Nacht also tatsächlich anderswo. Ihr Herz sank. Es gab eben kein Paradies auf Dauer.
Die Tür hatte eine altmodische schmiedeeiserne Klinke. Leise drückte Rosalind sie nach unten. Sie wollte möglichst kein Ge räusch verursachen. Vielleicht lauerte irgendwo ein Geheimagent und hielt sie für einen Einbrecher, den man mit einem Fausthieb zur Strecke bringen musste.
Die Tür gab nicht nach. Rosalind versuchte es noch einmal. Verschlossen. Ihr Herz pochte wild. Najib war also immer noch dort drinnen. Sie ging zum Fenster, aber auch das war verschlos sen, dabei wurden die Türen und Fenster, die zum Hof gingen, sonst nie verschlossen.
Enttäuscht und verletzt wandte Rosalind sich um - und lief direkt in die Arme des Mannes, der hinter ihr stand. Er hielt sie an den Schultern fest und schob sie von sich weg.
„Was machst du hier?" fragte Najib, und seine Stimme hörte sich rau und gequält an. „Was willst du?"
Auf einmal wusste Rosalind genau, was sie wollte. Er sollte nicht in einem anderen Bett schlafen. Sie brauchte ihn. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach ihm.
„Ich ... ich wollte mir ein Buch holen."
„Ein Buch", wiederholte er tonlos.
Mit nacktem Oberkörper stand er vor ihr. Er trug nur eine lose fallende Hose aus heller Baumwolle.
Sie legte die Hände flach auf seine Brust. Seine Haut war glatt und warm. Rosalind hatte das Gefühl, allein schon vor Sehnsucht zu vergehen.
„Warum bist du nicht zu mir ins Bett gekommen?"
Er aber schob sie erneut von sich weg. „Nein, Rosalind, diesmal funktioniert das nicht. Sag mir, warum du versuchst, in dieses Zimmer einzudringen. Wen wolltest du anrufen?"
Najibs Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Er hatte die ganze Zeit gewartet, sicher, dass sie den Versuch machen würde. Dennoch hatte er gehofft, es würde nicht passieren.
„Anrufen?" murmelte sie. Warum entzog er sich ihr? Sie brauchte ihn so sehr. Warum tröstete er sie nicht, nach allem, was heute passiert war? „Halt mich", flüsterte sie. „Najib, bitte halt mich fest."
Wieder streckte sie die Hände nach ihm aus, und sie spürte, dass sein Widerstand nachließ. Lächelnd legte sie die Hände um seinen Nacken. „Liebe mich", hauchte sie.
-„Und was ist mit morgen?" erwiderte er.
Rosalind verstand nicht, was er meinte. Aber im Moment war ihr das nicht wichtig. „Das spielt keine Rolle, liebe mich jetzt."
Najib begriff, dass er keine Chance hatte. Er nahm sie auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer.
Ein letztes Mal. Er würde ihr eine letzte Nacht gewähren - eine Nacht, die sie niemals vergessen würde. Doch eine zweite solche Nacht würde es für sie nicht geben, und sie würde sich wünschen, sie wäre ehrlich zu ihm
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